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Der Fotograf – eine Kurzgeschichte
"Klack, klack“ macht meine Kamera, als ich ein Foto nach dem anderen schieße. Vor meinen Augen erstreckt sich eine majestätisch anmutende, malerische Landschaft, die ich so nur selten zu Gesicht bekomme. Berge mit markanten Gipfeln, dicht aneinandergereiht, bilden sie eine Front, die den azurblauen Himmel von der graubraunen Erde trennt.
Kurz reiße ich mich von dem großartigen Anblick los, um eine Sitzbank in der Nähe aufzusuchen, damit ich mich noch eine Weile an der Aussicht sattsehen kann. Meine harten, angespannten Schultern weichen einer entspannteren Haltung und meine Mundwinkel heben sich leicht nach oben. Einfach herrlich.
Einige Momente gebe ich mich der vollkommenen Ruhe hin, der Gedanken-Tsunami ordnet sich Stück für Stück. Es tut gut, einfach rauszukommen, niemanden um sich zu haben, einem Hobby nachzugehen und dabei Raum und Zeit zu vergessen. Einfach leben, sich treiben lassen.
So schön solche Momente auch sind, werden sie von dunklen Gedanken vertrieben. Vor ein paar Wochen ging mein erstes Leben zu Ende. Es war geprägt von Erfolg, Liebe und Zweisamkeit. Nun stehe ich davor, mir einen neuen Abschnitt aufzubauen. Dabei stelle ich mir zwei Fragen, die ich mir noch nie zuvor gestellt habe:
Wer bin ich? Schaffe ich den Neuanfang?
Vor 39 Jahren startete ich meine Karriere als Bankangestellter, rasch ging es bergauf. Vor 32 Jahren lernte ich meine Frau kennen. Bis vor einigen Wochen war sie meine zweite Hälfte. Mit ihr machte mein Leben Sinn.
Es war vor knapp einem Jahr, die ersten Knospen läuteten das Frühjahr ein, doch mich verließen alle Kräfte, als ich die Diagnose meiner Frau hörte: Krebs. Ab diesem Zeitpunkt ist mir unser gemeinsames Leben wie ein Film vorgekommen, allerdings in dreifacher Geschwindigkeit und mit ständigen Höhen und Tiefen. Immer wieder hatte man einen kurzen Moment der Hoffnung, dass es besser wird, dass sie wieder gesund wird. Dann holte uns die Realität ein. Es wurde nicht besser, nur schlimmer, bis es plötzlich zu Ende war. Die Beerdigung habe ich nur gedämpft mitbekommen, auch wenn ich mich um alles gekümmert habe. Unsere Kinder waren da, um Abschied zu nehmen, doch sie wohnen alle weiter weg, es hat sie vom Land fortgezogen.
Alleine habe ich es zuhause nicht mehr ausgehalten. Bei jedem Knarzen blickte ich Richtung Haustür und erwartete, dass alles wieder so wird, wie es vor der Diagnose war. Wir beide. Gemeinsam. Wir hatten noch so viel vor.
Nun bin ich eine Woche in Richtung der Alpen gefahren, schaue mir täglich eine andere schöne Stelle an, genieße jeden Moment. Mein Kopf legt sich von selbst in den Nacken, meine Lider öffnen sich leicht und ich blicke in die Krone des mächtigen, alten Apfelbaumes, der seine Arme rundherum ausstreckt. Ein Luftzug wirbelt durch die Krone, die Äste schaukeln. Meine Ohren hören zu, bis sich alles wieder beruhigt hat.
Zu meiner ersten Frage, nach dem Ich, kann ich bis zum jetzigen Zeitpunkt nur sagen, dass ich ein Mensch bin, der die Ruhe genießt. Vor zwei Jahren hätte ich geantwortet, dass ich ständigen Trubel brauche, um mich lebendig zu fühlen. Nun ist es ganz anders. Ich bin fast schon genervt, wenn ich länger unter Menschen bin.
Daher liegt es nahe, dass mich die Fotografie als Freizeitbeschäftigung gefunden hat. Damit kann ich Momente festhalten, die es wenige Sekunden später gar nicht mehr geben würde. Ich kann das Leben mit meiner Linse aufnehmen. Es macht mich glücklich, das Leben in dieser Art und Weise kontrollieren zu können. Wie schön wäre es, wenn ich die glücklichen Momente mit meiner Frau festhalten hätte können und diese nun wieder anschauen könnte. Aber ich kann die vergangenen Wochen, Monate, Jahre nicht mehr zurückholen.
Mit einem traurigen Seufzen blicke ich in die Ferne. Irgendwann muss ich akzeptieren, dass ich die Vergangenheit nicht mehr ändern kann. Aber dass sie mich geändert hat, das steht fest. Mit einem eisernen Willen kratze ich den Rest meiner inneren Stärke zusammen, um nicht an Ort und Stelle zusammenzubrechen. Ich muss stark sein, denn es gibt keinen anderen Weg als nach vorne. Man kann nicht nur zurückblicken, in Trauer versinken oder auf der Stelle trampeln. Man hat nur eine begrenzte Zeit, die man ausfüllen kann. Und auch meine Frau hätte nicht gewollt, dass ich hier sitze und in Tränen ausbreche. Es ändert nichts an meiner Situation.
Mit der mächtigen Bergfront vor mir richte ich mich auf, meine Schulter ziehe ich zurück, damit ich aufrechter sitze. Mit fester Stimme wiederhole ich folgenden Satz: „Ich muss leben. Ich packe das.“ Als ich dieses Mantra immer wieder vor mir hersage, wird mir leichter ums Herz. Meine Beine beugen sich wie von selbst und ich befinde mich im aufrechten Stand. Meine Finger knipsen ein letztes Foto, ehe ich mich zurück in meine Unterkunft begebe und den Tag ausklingen lasse.