Landkreis Straubing-Bogen

Auf der Flucht vor den Taliban nach Straubing: Eine Familie erzählt


Haben einen gefährlichen Weg hinter sich: Waheeda Mahmoodi (hinten l.) und Said Minayar mit ihren Kindern Idris, Nargis und Benafscha. (Foto: mein)

Haben einen gefährlichen Weg hinter sich: Waheeda Mahmoodi (hinten l.) und Said Minayar mit ihren Kindern Idris, Nargis und Benafscha. (Foto: mein)

Von Franziska Meinhardt

Wenn Waheeda Mahmoodi über eine Brücke gehen muss, hat sie ein Problem. Sie hat Angst vor dem Fluss, den Wassermassen. Auf dem Weg zum Discounter auf der anderen Seite der Donau kann sich die Brücke schon als enormes Hindernis erweisen. Auch die Nacht ist ein Problem für sie. Auf die Straße zu gehen, kommt bei Dunkelheit nicht infrage. Oft wacht sie auf und macht sich Sorgen. Was wird mit ihrer Familie passieren? Wie wird es weitergehen?

Waheeda Mahmoodi ist nicht mit diesen Problemen auf die Welt gekommen. In ihrer Heimat Afghanistan arbeitete sie 18 Jahre lang als Chemielehrerin. Sie ist eine moderne Muslimin: Bei unserem Gespräch ist sie dezent geschminkt, trägt kein Kopftuch, aber einen leuchtend roten Mantel.

Engagement gegen Drogen: lebensgefährlich

Probleme entstanden, als sie sich vor zwei Jahren gegen den Drogenanbau in Afghanistan engagierte: In Kabul klärte Waheeda Mahmoodi in Kooperation mit einer deutschen Einrichtung andere afghanische Frauen über den schädlichen Einfluss von Drogen auf. 2013 wurde in Afghanistan laut einem Uno-Bericht mehr als 5.000 Tonnen Opium angebaut - rund 80 Prozent der weltweiten Opiumproduktion.

Waheeda Mahmoodi ist eine mutige Frau. Sie riet den Afghaninnen, dass deren Männer und Söhne statt Opium und Haschisch besser Gemüse anbauen sollten. Das brachte sie und ihre Familie in Lebensgefahr.

Kidnapper wollten die Tochter entführen

Der erste Zwischenfall ereignete sich auf einer Straße in Kabul. Jemand schubste Waheeda Mahmoodi, fast wäre sie vor ein Auto gestürzt. "Damals dachten wir noch, es sei Zufall gewesen", erzählt Said Minayar, ihr Ehemann. Beim zweiten Mal war ein Anschlag nicht mehr auszuschließen: Ein Mann bewarf sie mit Steinen. An der Unterlippe und über der Stirn sind jetzt noch kleine Narben zu sehen. Waheeda Mahmoodi ließ sich nicht einschüchtern.


Doch dann versuchten Unbekannte, ihre damals siebenjährige Tochter Benafscha zu entführen. Geistesgegenwärtig tat das Mädchen so, als würde es den Vater auf sich zukommen sehen. Die Kidnapper ließen von ihr ab, flüchteten in einem Auto. Weinend lief Benafscha nach Hause.

"Wir werden dich und deine Familie töten"

"Und dann war plötzlich ein rotes Kreuz an unserer Tür", erzählt Said Minayar. Mitten in der Nacht klopfte es. "Draußen standen Männer mit Gewehren und fragten: Wo ist deine Frau?" Sie hielten ihm ein Schriftstück hin. "Zeig das deiner Frau!" Es war eine Warnung der Taliban. Sie warfen Waheeda Mahmoodi vor, für Ausländer zu arbeiten. Das reichte schon für ihre Drohung: "Wir werden dich, deine Frau und deine Töchter töten", teilten sie mit.

Zukunft? Nur für Drogendealer und Kriegsherren

"Jetzt wusste ich, dass wir unser Land verlassen mussten", sagt Said Minayar. Ein ironisches Schicksal: In Kabul half Said als Angestellter einer Regierungsbehörde Migranten bei der Einreise. Nun wurde er selbst zu einem Flüchtling. "In Afghanistan haben nur noch diejenigen eine glänzende Zukunft, die für Drogenhändler oder Kriegsherren arbeiten", sagt der Mann resigniert, der Jura und Politikwissenschaften studiert hat.

Nachdem die Entscheidung gefallen war, verkaufte die Familie alles: das Auto, den Hausrat, Schmuck. Auch das Erbe des Großvaters wurde eingesetzt, um die Flucht zu organisieren. Von einer Kontaktperson erhielten sie Pässe. Als die Familie in Kabul das Flugzeug Richtung Teheran bestieg, wurden Waheeda, Said, Benafscha und Nargis zu Flüchtlingen: Sie hatten plötzlich wenig Einfluss auf ihr Schicksal, sind seitdem Fremden ausgeliefert. Eine Unsicherheit, die man sich hierzulande kaum vorstellen kann.

In Iran übernahm ein anderer Kontaktmann. "Wir fuhren in der Nacht siebeneinhalb oder acht Stunden mit dem Auto", erzählt Said. In einem Haus sollten sie warten, um am nächsten Morgen die Grenze zur Türkei zu überschreiten. In den kommenden Tagen musste die Familie zusammen mit anderen Afghanen einen Gewaltmarsch von neun Stunden auf sich nehmen.

In den Häusern, in denen sie übernachteten, hatten sie Angst, entdeckt zu werden. "Jede Nacht wachten die Mädchen auf und weinten", sagt Said. Auch Waheeda schreckte aus dem Schlaf auf: "Sie werden mich umbringen!" Doch Said Minayar ist ein gläubiger Mann, der Gott vertraut. "Ich sagte ihr, mach dir keine Sorgen - Gott ist groß."

Nachtfahrt im überfüllten Boot

In Izmir wurden sie mit anderen Flüchtlingen in ein Boot gepfercht. "Es war vielleicht für zehn Personen geeignet", sagt Said. "Ich zählte 36." In der Nacht überquerten sie in dem schwankenden Kahn die Ägäis nach Griechenland. "Manchmal wache ich heute noch auf, weil ich davon träume - es war wirklich gefährlich." Traumatisch war die Überfahrt auch für seine Frau, die seitdem mit der Angst vor Wasser zu kämpfen hat.

In Straubing lebt die Familie - seit der Geburt des kleinen Idris zu fünft - zusammen in einem Zimmer. Manchmal können sie nicht schlafen, weil aus den anderen Räumen Fernseher und Stimmen zu hören sind. Dennoch schätzt sich Said glücklich: "Ich konnte meine Familie retten."

"Ich bin froh, dass hier kein Krieg ist"

Dass die beiden Mädchen auf ihrer Flucht Todesangst hatten, ist ihnen auf den ersten Blick nicht anzumerken. Aus Benafscha ist eine aufgeweckte Neunjährige geworden, die nahezu perfekt Deutsch spricht und über das ganze Gesicht strahlt. Sie besucht die Grundschule St. Jakob. Dort mag sie besonders Mathematik und Sport. Und überhaupt: "In Straubing gefällt es mir sehr gut", sagt sie.

Natürlich sind ihr Unterschiede zwischen ihrer alten und neuen Heimat aufgefallen: "In meiner Stadt gibt es viel Krieg. Ich bin froh, dass hier kein Krieg ist." Außerdem freut sie sich, dass sie ihre Haare offen tragen kann und keine Schuluniform braucht. Auch die europäische Küche mag sie - "besonders Käsespätzle, Pizza Margherita und Schokopudding". Was sie an ihrer Heimat vermisst, sind vor allem Menschen - die Oma, die Lehrerin, die sie immer gelobt hat. Dafür hat sie in Straubing neue Freunde gefunden.

Ihre Schwester, die mittlerweile fünfjährige Nargis, besucht den Kindergarten. Sie spielt gerne Lego und mag Mr. Bean: "Er ist so lustig." Auch sie hat Kinder gefunden, mit denen sie gerne spielt. Beide Mädchen fühlen sich zu Hause, trotz ihrer beengten Wohnverhältnisse.

Was sich ihre Eltern wünschen, ist eigentlich klar, denn es ist der Wunsch aller Eltern: "Sie sollen lernen und in Frieden leben können", sagt Said. Waheeda, die neben den afghanischen Amtssprachen Dari ("Persisch") und Paschtu auch Englisch spricht, will unbedingt Deutsch lernen: "Ich möchte wieder einen guten Job haben." Denn den ganzen Tag nichts zu tun zu haben, das ist schon frustrierend. Zwar näht sie viel und hat über den Internationalen Kultur-Treff einige Kontakte aufgebaut. Doch ihre berufliche Qualifikation liegt brach.

"... und dann rette ich meine Stadt"

Auch Benafscha macht sich schon Gedanken über ihren späteren Beruf. "Mama will, dass ich Ärztin werde, Papa, dass ich Polizistin werde, und Nargis sagt: Werde bitte Doktor, dann kannst du mir helfen, wenn ich krank bin", sagt die Neunjährige.

Und was will sie selbst? "Ich will Polizistin werden und dann rette ich meine Stadt." Und da ist deutlich etwas von dem Heldenmut ihrer Mutter herauszuhören.

Haben eine mutige Mutter: Benafscha (r.) mit ihrer fünfjährigen Schwester Nargis. (Foto: mein)

Haben eine mutige Mutter: Benafscha (r.) mit ihrer fünfjährigen Schwester Nargis. (Foto: mein)