175 Jahre Mediengruppe

Ordnung für die Erinnerungen: Eine Archivarin über Papier und Digitales

Archive sind so etwas wie das kollektive Gedächtnis. Doch wie geht es mit Archiven weiter? Welche Bedeutung hat Papier noch für sie - und wie archiviert man Digitales? Wir haben mit Dr. Dorit-Maria Krenn gesprochen.


Dr. Dorit-Maria Krenn im Straubinger Stadtarchiv vor den alten Bänden des "Straubinger Tagblatts" im Straubinger Stadtarchiv.

Dr. Dorit-Maria Krenn im Straubinger Stadtarchiv vor den alten Bänden des "Straubinger Tagblatts" im Straubinger Stadtarchiv.

Archive gelten als die wohl wichtigsten schriftlichen Gedächtnisse der Welt. In ihnen werden Erinnerungen gesammelt und geordnet, liegen wichtige Unterlagen zur Entwicklung von Städten und Ländern, sie bilden mit ihren Inhalten das Leben vergangener Zeiten ab. Bis jetzt hat sich viel auf Papier abgespielt - auf Zeitungs- und Aktenmaterial, in Briefen und anderen Notizen. Jedoch kommen seit ein paar Jahrzehnten in großen Mengen auch elektronische Daten hinzu. Wir haben uns mit Dr. Dorit-Maria Krenn über die Bedeutung von Archiven, Materialien auf Pergament und (Zeitungs-)Papier sowie die Zukunft von digitalen Archiven unterhalten. Krenn ist Expertin auf dem Gebiet: Die Germanistin und Historikerin leitete jahrzehntelang das Straubinger Stadtarchiv und ist dort nach wie vor beratend tätig.

Frau Dr. Krenn: Aus Ihrer Sicht als Archivarin - wie beurteilen Sie als Expertin die Entwicklung, dass immer mehr Dokumente und Ähnliches ins Digitale wandern?

Dr. Dorit-Maria Krenn: Das muss man von zwei Seiten betrachten: Das eine ist die Digitalisierung von analogen Dingen, das andere sind die Daten, die nur noch digital anfallen. Die Digitalisierung von analogen Daten - egal, ob es sich um Zeitungen, Fotos, Dokumenten handelt - ist ein gutes Hilfsmittel zur Forschung und eine gewisse Schutzüberlieferung. Das andere ist der Anfall von ausschließlich ureigenen digitalen, den so genannten "born-digital" Daten. Das ist für mich als altgedienter, altmodischer Archivarin ein Problem.

Wieso?

Krenn: Weil ich nicht an die Haltbarkeit digitaler Daten glaube. Denn man muss sich die Frage stellen: Was bleibt von diesen digitalen Daten, die nur elektronisch anfallen? Wie will man eine ständige Lesbarkeit, zum Beispiel noch in 200 Jahren, überhaupt möglich machen?

Ist man da nicht bereits auf einem guten Weg in den Archiven dieser Welt?

Krenn: Es gibt natürlich schon bestimmte Mechanismen, dass man in bestimmten Datenformaten abspeichert. Aber das ist für mich alles Versuch und Irrtum. Ob jemand in 200 Jahren das alles noch lesen kann, ist fraglich. Natürlich werden schon lang digitale Daten archiviert, egal, ob in den großen Staatsarchiven oder auch Stadtarchiven wie in München. Denn es gibt natürlich einen gewissen gesellschaftlichen Druck: Wir sind verantwortlich dafür, dass wir Daten archivieren, die nur noch digital vorliegen. Aber ob das Handwerkszeug in Zukunft auch vorliegt, damit man das alles dauerhaft lesen kann - das ist fraglich. Bei analogen Daten wie Papier oder Pergament weiß ich, wie ich die zu lagern habe. Ich kenne das benötigte Raumklima, die Luftfeuchtigkeit, die Temperatur, weiß, dass es keine UV-Einstrahlung geben darf. Aber weiß ich das bei elektronischen Daten? Dann kommt der Kostenfaktor hinzu.

Inwiefern?

Krenn: Archivhaltung kostet etwas - auch bei Raumklima und Co. muss ich investieren, zum Beispiel in säurefreies Papier und säurefreie Kartons. Aber das Raumklima bei elektronischen Daten und diese großen Rechenzentren müssen ja immer gepflegt werden. Die Daten können da ja nicht einfach so liegen wie Daten in einem Papierarchiv. Die Akten dort muss ich nicht einmal im Jahr umlagern: Wenn die gut gesichert sind, dann passt das. Aber bei elektronischen Daten ist immer eine Migration nötig. Eine Überprüfung ist essenziell. Sind Datenverluste da? Zudem muss man sie immer auf neue Systeme migrieren. Das sind ganz andere Kosten, die da künftig auf uns zukommen; personell plus auch für die Pflege und die Lagerung dieser Daten. Aber das ist nur meine persönliche Überzeugung. Und dann kommt noch hinzu: Wir archivieren ja immer in Auswahl. Ich als Archivarin hebe ja nicht alles auf, sondern sichte vorher das Material, was relevant sein könnte. Absolut alles aufzuheben ging bisher nicht aus Platzgründen.

Und wie verhält es sich bei elektronischen Daten?

Krenn: Das muss ich bei elektronischen Daten genau so machen. Aber schon allein die Bewertung bei elektronischen Daten ist viel aufwändiger - allein wegen der Masse. Hebe ich also in Zukunft einen Wust an Daten auf? Kann ich die überhaupt noch durchschauen?

Das erinnert an das private Fotoarchiv auf einem Handy, völlig unkuratiert... Ist das die Gefahr, dass man in elektronischen Archiven viel zu viel aufhebt, weil man ja schier unendlich speichern kann?

Krenn: Ja, das glaube ich. Das ist bei diesen elektronischen Daten schwierig. Natürlich kann ich ein Aussonderungssystem darüberlegen, aber das muss schon vorher passieren. Da sind die Archive momentan dran, dass man diese Punkte regelt. Das hat aber nichts damit zu tun, wie man das alles haltbar für die Zukunft machen soll. Das ist unklar. Und ich bin da sehr, sehr skeptisch.

Gibt es auch Menschen, die nicht so skeptisch sind?

Krenn: Die Jüngeren natürlich. Da scheiden sich gerade die Geister, und das muss wahrscheinlich auch so sein, weil die Jüngeren schon einen ganz anderen Umgang mit diesen Daten haben. Aber ich habe das schon zu oft erlebt, dass nicht alles haltbar ist. Nehmen wir zum Beispiel meine Doktorarbeit; die habe ich damals auf einem Computer geschrieben. Und die ist nicht mehr lesbar.

Also kommt es sehr stark auf die Migration an? Dass man regelmäßig umspeichert auf den neuesten Datenträger?

Krenn: Ja, man muss da kontinuierlich überwachen und bewegen.

Das klingt nach sehr viel Arbeit.

Krenn: Ja, daher sind die Wege ja schon, dass diese Aufgabe ein Rechenzentrum übernimmt, das nur dafür spezialisiert ist. Große bayerische Kommunen schließen sich schon anderen Kommunen, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, an, die das dann in einem großen Rechenzentrum übernehmen. Das muss man aber monatlich bezahlen. Den ganzen Input, die ganze Bewertung und die Übergabe in dieses System muss jedoch natürlich das Kommunalarchiv übernehmen. Das ist auch zuständig für die Zugänglichkeit für Forscher - darum geht es ja auch. Wenn jemand etwas einsehen will, ist das Kommunalarchiv dafür zuständig, dass man die Daten vor Ort lesen kann. Aber diese ganzen Prozesse sind alle noch nicht ausgegoren. Manche laufen im Probebetrieb, manche schon im Echtbetrieb.

Wie schätzen Sie unter all diesen Gesichtspunkten die Wichtigkeit eines Zeitungsarchivs ein, wie die "Mediengruppe Attenkofer" es pflegt?

Krenn: Die Zeitung als gedruckte Quelle ist äußerst wichtig und eine sehr wertvolle Quelle - egal, ob es sich um Stadtgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Gesellschaftsgeschichte oder Sportgeschichte handelt. Die Zeitung ist bei uns jetzt schon einer der meistgenutzten Bestände, wobei ich hier sagen muss: Die gedruckte Zeitung als Quelle ist bei Themen zusammen mit analogen Akten aus der Stadtverwaltung, Nachlässen und Vereinsunterlagen sehr wichtig. Aus dem Ganzen bildet sich dann die Erkenntnis über ein Ereignis. Wie wird es aber künftig sein? Das bewegt mich gerade sehr. Ich hoffe daher, dass die Zeitung noch ganz, ganz lange als gedrucktes Exemplar vorliegt. Dadurch, dass ich momentan nicht an die Archivierbarkeit von digitalen Medien glaube, werden für künftige Forscher im Blick auf unsere Zeit diese gedruckten Zeitungsexemplare unheimlich wichtig werden.

Inwiefern?

Krenn: Ich glaube, dass Zeitungen eine der wenigen, wenn nicht die einzige Quelle sein werden zu unserer Zeitgeschichte. Weil alles andere irgendwo im Orkus verschwindet. Das heißt aber auch, dass im Grund die Printmedien eine besondere Verantwortung haben. Es geht um die Chronistenpflicht. Das macht die Zeitung in Zukunft umso wichtiger. Solange ich eine Zeitung auf Papier habe, die ich archivieren kann und bei der ich weiß, dass sie unter bestimmten raumklimatischen Bedingungen immer da sein wird: Dann habe ich meine Chronik für die Zukunft. Natürlich immer unter dem Anspruch der sachgerechten Berichterstattung.

Wo sehen Sie weitere Vorteile bei einem gedruckten Exemplar, das direkt vor einem liegt?

Krenn: Neben der Chronistenpflicht ist es einfach auch das Text lesen, Text verstehen, Text erfassen. Sabine Anselm, Professorin für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der LMU München, hat gemeinsam mit vielen anderen Lern- und Entwicklungspsychologen dahingehend geforscht, dass es eindeutig bewiesen ist, dass der Spracherwerb und das Textverständnis über den analogen Text gehen. Das Bilderbuch ist absolut wichtig und nicht der Fernseher oder das Handy. Die Pisa-Studie von 2018 hat gezeigt, dass Kinder sich wahnsinnig schwertun, zwischen Fakt und Fiktion zu entscheiden. Und Anselm sagt, dass das unter anderem davon kommt, dass das digitale Lesen da einen Anteil hat. Digital wird viel mehr überflogen - Lesen funktioniert digital einfach anders. Wenn ich zudem auf einem digitalen Gerät etwas kritisch analysieren soll, muss ich es vorher meinem Gehirn sagen. Da braucht es eine Information für das Gehirn, die besagt: Ich möchte jetzt diesen Text ganz genau lesen. Aber nur dann, wenn ich es als Kind analog eingeübt habe. Und da liegt ebenso ein Problem: Es wird mittlerweile viel zu wenig eingeübt. Da sagt Anselm, es fehle den Kindern und Jugendlichen der Referenzrahmen gedruckter Tageszeitungen. Das ist mittlerweile auch in den Schulen und Universitäten spürbar: Das Textverständnis leidet. Wenn man etwas aufschreibt oder auf Papier markiert, geht es auch direkt von der Hand in das Gehirn. Aber das wird ja mittlerweile als altmodisch angesehen, wenn man noch mit Papier arbeitet. Jedoch sagen viele Didaktiker und Lernpsychologen, dass genau das eigentlich eingeübt werden müsste. Bei Texterwerb und -verständnis ist der Bildschirm unterlegen. Auch in der Geschichtswissenschaft ist spürbar, dass die meisten Studenten mit analogen handschriftlichen Geschichtsquellen früherer Jahrhunderte nicht mehr umgehen können - nicht nur, weil sie sie nicht mehr entziffern können, sondern auch weil sie sie nicht mehr verstehen und in einen größeren historischen Zusammenhang einordnen können. Nur immer mehr Digitalisierung in den Schulen geht nicht. Digital ist natürlich sehr wichtig. Aber das Ausgewogene wäre noch wichtiger - ich brauche die Basis, damit ich mit dem Digitalen arbeiten kann. Und diese Basis wird nicht mehr gelegt. Bei uns zuhause lagen immer Zeitungen auf dem Tisch, meine Kinder haben da immer reingeschaut, und wenn es aus Langeweile war (lacht). Das fällt alles weg. Und natürlich fällt auch ein Gutteil der Allgemeinbildung weg. Beim Texterwerb und Textverständnis hat der Bildschirm Nachteile.

Und wie wird das weitergehen?

Krenn: Sagen wir so: Wenn die Basis im Kindesalter analog gelegt ist, kann man mit dem Digitalen umgehen. Aber die große Gefahr ist, dass diese Basis nicht mehr gelegt wird.

Was würden Sie sich denn für die Zukunft wünschen?

Krenn: Ich kann mir natürlich nicht das Pergament zurückwünschen (lacht). Vielleicht würde ich mir wünschen, dass der Mensch nicht nur auf das Digitale setzt und nach wie vor wichtige Quellen doch noch analog aufbewahrt. So wie zum Beispiel Protokolle von Stadtratssitzungen und Haushaltspläne: Die werden in Straubing von mir nach wie vor auf archivfähigem Papier ausgedruckt und archiviert. Da würde ich mir wünschen, dass das nicht belächelt, sondern beibehalten wird. Dass man auch Fotos noch ausdruckt. Dass eine gewisse analoge Überlieferung in Auswahl von wichtigen Quellen weitergeht, so dass nicht nur die Zeitung die Quelle bleibt, sondern man eine gewisse Vielfalt an Quellen für die künftige Forschung hat. Ich bin einfach ein Verfechter des Analogen.

Interview: Claudia Hagn


Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Beilage "175 Jahre Mediengruppe Attenkofer".