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Auf den Spuren der "goldenen Lotosfüße"


Stefanie Maier ist zweisprachig aufgewachsen: deutsch und chinesisch.

Stefanie Maier ist zweisprachig aufgewachsen: deutsch und chinesisch.

Von Stefanie Maier

In China erzählt man sich, dass der Brauch des Füße-Bindens aus dem Inneren des Kaiserpalastes stammt. Der Kaiser Li Yu aus der Tang-Dynastie war eine romantische und einflussreiche Person. Geschichten über seine Frauen gibt es viele. Er schrieb gerne Gedichte und bestaunte Tänze. Im Palast hatte er viele Tänzerinnen - eine davon hieß Yao lan. Sie wurde in armen Verhältnissen geboren und war für das Pflücken der Lotosblumen zuständig. Sie sei sehr hübsch und zart gewesen, sagt man. Da sie so gut tanzen konnte, wurde sie mit 16 Jahren ausgewählt und durfte in den Kaiserpalast eintreten. Ihr Tanz sah so schön aus, dass es die Zuschauer sehr berührte. Sie band sich beim Tanzen ihre Füße mit weißer Baumwolle und Seide zusammen. So konnte sie sie ihre Füße zu einem Halbmond beugen. Das war sehr außergewöhnlich. Einer ihrer Zehen berührte den Boden und sie selbst drehte sich im Kreis.


Der Kaiser Li Yu war so begeistert, dass er diese Tänzerin besonders verwöhnte. Er bestimmte, dass sich alle anderen Tänzerinnen genauso wie Yao Lan bewegen sollten. Es wurde sogar eine Bühne in der Form einer Lotosblume errichtet. Als sie anfingen, darauf zu tanzen, hatte man den Eindruck, als ob die Tänzerinnen auf Wolken schweben würden. Durch den Buddhismus, für den die Lotosblume ein große Bedeutung hatte, bekamen die Füße, die auf der Lotosblumen-Bühne tanzten, auch ihren Namen: die Lotosfüße. So nannte die Gesellschaft die Füße der Tänzerinnen.

Ballett als Nachfolger des Füßebindens
Li Yu's Tänzerinnen mussten versprechen, ihren Fuß klein zu halten. Sie zählten unter den Schauspielern als Ehrengäste. Das erweckte bei den adlichen weiblichen Ehrengäste dauernd Neid. Jede der edlen Frauen fing an, es den Tänzerinnen nachzumachen, um so hübsch zu sein und um genau so geruhsam zu gehen. Das Füßebinden verbreitete sich vom Kaiserpalast hinaus zum Volk, von Nord nach Süd und von Ost nach West. Auch über Chinas Grenzen hinaus tanzten die Frauen mit diesem einen Zeh. Die vielen ausländischen Tänzerinnen aus dem Kaiserpalast trugen diese Kunst nach Europa und in die Welt. Marco Polos Einfluss ist es zu verdanken, dass sich auch die Frauen im italienischen Palast die Füße mit Satintüchern kleinbanden. Und auch in Frankreich wurde so getanzt. Daraus entwickelte sich das heutige Ballett.

Die beiden Füße meiner Oma sind viel kleiner als die Füße heutiger Frauen. Aber auch nicht so klein wie die Lotos-Füße. Die Füße meiner Oma wurden nämlich nur zur Hälfte gebunden. Er ist also ein halbroher Fuß. Das heißt, dass der Fuß nicht totgebunden wurde.

Als die Japaner China eroberten, suchten sie nach hübschen Mädchen. Damit die Frauen diesen Ganoven entfliehen konnten, rissen sie sich die Tücher vom Fuß. Die Tradition aus früheren Tagen wurde also schnell abgelehnt. In jeder Zeitung stand, dass Frauen ab sofort einen natürlichen Fuß haben müssten. Und jede entschied sich dafür. Von da an band sich nie wieder ein Mädchen den Fuß und dieser Brauch verschwand. Es gibt heute nur noch wenige Menschen in China, die noch einen kleinen Fuß haben.