Serien-Tipp
„Adolescence“ hat eine Debatte über Männlichkeit und Social Media angestoßen
Darum geht’s: Der 13-jährige Jamie wird in Großbritannien verhaftet. Die Polizei stürmt das idyllische Einfamilienhaus seiner Familie und nimmt ihn mit auf die Wache. Er soll eine Klassenkameradin ermordet haben, die Ermittler haben Videobeweise. Was ihnen aber fehlt: ein Motiv. Wie kommt ein so junger Bub dazu, ein Mädchen mit einem Messer zu erstechen? Das versuchen alle in Jamies Umfeld herauszufinden: eine Therapeutin, seine Mitschüler, die Polizisten und auch seine Familie.
Das Besondere: Jede Folge ist ungefähr eine Stunde lang und wurde in einer einzigen langen Aufnahme gefilmt. Zwar wechseln die Personen, auf die sich die Kamera konzentriert: Aber es wird nicht einmal geschnitten. So geht es in Folge eins zum Beispiel um Jamies Verhaftung beziehungsweise die erste Stunde danach. Die folgende Episode zeigt wiederum zwei Ermittler in Jamies Schule, die in den chaotischen Schulalltag stolpern.
Sogenannte One-Shots wie diese sind eigentlich nichts Neues: Doch sie kosten viel Planung, Zeit und Talent. Für die Kameraleute, Drehbuchautoren und Regisseure. Alles muss perfekt getaktet sein, teilweise bis auf die Sekunde genau.
Die Schauspieler liefern in „Adolescence“ grandiose Leistungen ab, obwohl sie über lange Zeiträume durchhalten müssen, weil die Kamera nie wegschaut. Dass das so gut funktioniert, ist ein kleines Wunder: vor allem, weil Owen Cooper, der Jamie spielt, zuvor noch nie an einem Filmset war. Er spielt den 13-jährigen Mörder mit viel Tiefe und einer endlosen Wut, die sich immer mehr im Laufe der Serie zeigt.
Fazit: „Adolescence“ ist ein Meisterwerk und behandelt das Thema mit sehr viel Feingefühl. In der zweiten Hälfte der Serie wird immer klarer, dass Jamies Mord mit seinem Bild von Männlichkeit zusammenhängt. Das Kind hat sehr viel Zeit im Internet verbracht und ist in die sogenannte Manosphere gestolpert: eine Gruppe an besonders toxischen Influencern wie Andrew Tate, die frauenfeindlichen Content verbreitet.
Im Laufe der Ermittlungen wird klar, dass dieser Hass in den sozialen Medien einen großen Einfluss auf Jamie und seine Mitschüler hatte. Das Problem ist aber nicht nur ein britisches: Fast jeden Tag wird laut dem BKA in Deutschland eine Frau wegen ihres Geschlechtes ermordet. Und auch in Deutschland gibt es zum Beispiel den beliebten Podcast „Hoss & Hopf“, der viele Argumente der Manosphere übernimmt.
Das ist aber nicht das einzige Thema, das die Serie anspricht. Hier soll nun nicht zu viel gespoilert werden: Aber die Show geht sehr sensibel mit den komplexen Problemen um, die in „Adolescence“ angeschnitten werden. Nur wäre es vielleicht sinnvoll gewesen, eine fünfte Folge dazwischen zu schieben, in der man die Perspektive des Opfers nachvollziehen kann. Über das Leben des ermordeten Mädchens bleiben einige Fragen offen.
Dafür zeigt aber die letzte Folge auf sehr emotionale Weise, wie Jamies Eltern mit der Gewalttat umgehen. Besonders die Rolle des Vaters ist interessant: Stephen Graham spielt den verzweifelten, aber eigentlich sehr liebevollen Familienvater mit vielen Facetten, die überraschen und Herz in die deprimierende Geschichte bringen.
Die Serie hat eine große Debatte in Großbritannien und auch bei uns in Deutschland angestoßen und feiert dadurch Streaming-Erfolge. Sie soll nun zum Beispiel auch in britischen Schulen gezeigt werden, um über den Zusammenhang von Social Media, Hass und Gewalttaten aufzuklären – denn das Drehbuch ist leider sehr nah an der Realität. Auch, weil es teils von echten Ereignissen inspiriert ist.
„Adolescence“, vier Folgen à 60 Minuten, verfügbar auf Netflix, freigegeben ab zwölf Jahren.