Politik zum Verstehen

Radikalisierung erklärt: Wenn die Freundin in den Krieg ziehen will


Kämpfen für einen religiösen Staat: Tatsächlich radikalisieren sich auch immer wieder Jugendliche aus Niederbayern und der Oberpfalz.

Kämpfen für einen religiösen Staat: Tatsächlich radikalisieren sich auch immer wieder Jugendliche aus Niederbayern und der Oberpfalz.

Der Krieg in Syrien ist gefühlt sehr weit weg. Doch tatsächlich radikalisieren sich auch immer wieder Jugendliche aus Niederbayern und der Oberpfalz. Was dabei in ihnen vorgeht, wie man ihnen helfen kann und wie du dich verhalten solltest - wir haben bei einem Experten nachgefragt.

Yasmin ist 17. Als sie an einem Montag den Fernseher einschaltet, bleibt sie an einer Reportage hängen. Es geht um den so genannten Islamischen Staat (IS). Die Reportage zeigt, wie die Terrororganisation versucht, in Syrien und dem Irak einen Staat zu schaffen, in dem der Islam regiert. Yasmin findet besonders das, was über das Thema Religion gesagt wird, interessant. Die 17-Jährige ist in Deutschland geboren und macht gerade eine Ausbildung. Mit Religion hatte sie bisher wenig zu tun. Auch ihre Eltern sind nicht besonderes gläubig. Die Familie ist muslimisch. Aber sie praktiziert ihren Glauben kaum. Höchstens an großen Feiertagen besucht sie eine Moschee. Yasmin ist neugierig. Denn Fragen rund um das Leben beschäftigen sie. Dem Christentum konnte sie bisher nichts abgewinnen. Diese Religion erschien ihr nicht aufrichtig. Die 17-Jährige recherchiert durch die Reportage angeregt im Internet. Was sie dort über den Islam erfährt, erscheint ihr schlüssig. Als sie auf die Seite der Koranverteilungskampagne "Lies!" gelangt, entdeckt sie, dass man das religiöse Buch dort erhält. Kostenlos. Sie drückt auf bestellen. Jetzt haben die Leute, die hinter dieser Seite stecken, ihre Daten. Sie treten mit Yasmin in Kontakt. Nachdem sie viele Fragen der jungen Auszubildenden beantworten können, entsteht schnell ein intensiver Austausch. Yasmin fühlt sich gut aufgenommen. Ihre neuen Bekannten vermitteln ihr das Gefühl, zur Gruppe zu gehören. Es gibt Kochkurse. Sie wird abgeholt.

Ein Fall, der typisch ist

Yasmin heißt eigentlich gar nicht Yasmin. Sie kommt auch nicht aus Niederbayern oder der Oberpfalz. Aber sie könnte es. Denn Fälle wie ihren gebe es in allen Regionen Bayerns - sowohl in den Städten als auch auf dem Land, sagt Holger Schmidt. Er ist Kriminaloberrat am Kompetenzzentrum für Deradikalisierung beim Landeskriminalamt in München. Dort laufen solche Fälle auf, wenn sie bemerkt werden. Schmidt und seine Kollegen prüfen dann, ob von diesen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen eine Gefahr für unsere Sicherheit ausgeht. Deshalb weiß er, wie viele Jugendliche betroffen sind. Das Zentrum gibt es seit September 2015. Schmidt möchte Yasmin schützen, damit sie sich wieder ins Leben eingliedern kann. Deshalb erzählt er uns zwar ihre Geschichte, nennt aber nicht ihren Wohnort und ihren richtigen Namen. Was sich in Yasmins Leben abspielt, ist äußerst typisch für eine Radikalisierung. Yasmin hat sich verändert. Sie hat sich von ihren Freunden abgewandt. Ist verschlossener geworden. Sie kleidet sich defensiver.

Die Ausbilderin ist besorgt

Yasmins Ausbilderin, die ihre Veränderung bemerkt, fängt an, sich Sorgen zu machen. Sie hat das neue Interesse ihres Schützlings bemerkt. Doch es scheint über Interesse hinaus zu gehen. Sie grübelt: Hat Yasmin sich radikalisiert? Will sie nach Syrien ausreisen? Die Ausbilderin wendet sich an die Organisation "Violence Prevention Network”. Das ist ein Verein, der sich um Jugendliche kümmert, die dabei sind, sich zu radikalisieren. Die Mitarbeiter nehmen Kontakt zu Yasmin auf und suchen das Gespräch. Sie besprechen das Thema aber auch mit Holger Schmidt und seinen Mitarbeitern. Das Experten-Team muss beurteilen: Ist die junge Frau womöglich gefährlich? Muss die Behörde eingreifen? Bei Yasmin gehen Schmidt und seine Kollegen nicht davon aus. Sie glauben, man kann gut mit ihr arbeiten. Die Experten von Violence Prevention Network führen Gespräche mit ihr. Viele Gespräche. Dabei stellen sie vor allem Fragen. Yasmin beginnt scheinbar nachzudenken. Das braucht Zeit. "Im Moment sieht es danach aus, dass sie sich wieder abgewandt hat", sagt Schmidt. Das kann man natürlich nie mit absoluter Sicherheit sagen. Und eine Erfolgsgarantie gibt es nicht.

Radikal oder religiös?

Wichtig ist der Unterschied zwischen sehr streng gläubig und radikal, betont Kriminaloberrat Holger Schmidt. Viele seien oft sehr streng religiös und achten extrem auf die Einhaltung der religiösen Regeln. Oft sei das bei Flüchtlingen der Fall. Weil viele von ihnen aus einem Bürgerkriegsland kommen, haben sie oft eine andere Einstellung zu Gewalt. Das heißt aber nicht, dass sie radikal sein müssen. Beunruhigend ist es jedoch, wenn jemand den Krieg verherrlicht oder davon spricht, selbst in den Krieg ziehen zu wollen.

Wie viele Fälle gibt es bei uns?

Konkrete Zahlen seien gar nicht das Entscheidende, erklärt Hager Schmidt vom Kompetenzzentrum für Deradikalisierung. Sie können sich nämlich täglich ändern. Zuletzt habe es in Niederbayern aber immerhin circa eine Handvoll Jugendlicher gegeben, die sich radikalisiert haben. Schmidt meint damit diejenigen, die als sicherheitsrelevant eingestuft wurden. In der Oberpfalz sind es etwa genauso viele.

Was kannst du tun?

Wenn du bei einem Freund eine Veränderung bemerkst, die dich beunruhigt, dann solltest du eines unbedingt versuchen: den Kontakt zu halten. Es ist wichtig, dass man mit demjenigen im Gespräch bleibt, rät Kriminaloberrat Holger Schmidt vom Zentrum für Deradikalisierung. Mit Fragen kann man denjenigen am besten zum Nachdenken anregen. Kann dies oder jenes zusammenpassen? Was bedeutet es, wenn man alle Ungläubigen tötet? Hast du keine Angst vor diesem oder jenem? Gleichzeitig solltest du dir Hilfe von Fachkräften holen. Ein erster Kontakt kann Violence Prevention Network sein. Das ist ein Verein, an den sich Angehörige, Lehrer, Sozialpädagogen und Betroffene wenden können. Wenn sie mit der Polizei oder den Mitarbeitern von Holger Schmidt sprechen, so bleibt der Fall zunächst anonym. Namen und Daten werden erst weitergegeben, wenn der Fall sicherheitsrelevant ist, sagt Holger Schmidt.

Phasen der Radikalisierung

1. Prä-Radikalisierung: Diese Phase findet schon als Kind statt. Sie ist geprägt von Familie und Umfeld. Diese Erfahrungen bilden die Basis für das, was später passiert.

2. Radikalisierung: Der Freund oder die Freundin kommen erstmals in Kontakt mit Salafisten. Sie werden plötzlich streng religiös und verändern vielleicht ihr Äußeres (Mädchen tragen zum Beispiel auf einmal ein Kopftuch). Sie besuchen neuerdings eine Moschee und beten sehr oft.

3. Indoktrinierung: Der Freund oder die Freundin geht nicht mehr mit auf Partys oder zum Fußballspielen. Sie nabeln sich ab. Sie denken bereits darüber nach, sich dem IS anzuschließen und auszureisen.

4. Manifestation: Die Radikalisierten sind kurz vor der Ausreise nach Syrien. Eltern ertappen sie mit gepackten Koffern. Sie sind gewillt, in den Krieg zu ziehen oder anderweitig aktiv zu werden.

Kontakte

Violence Prevention Network Bayern, Telefon: 089-416117711

Kompetenzzentrum für Deradikalisierung, Landeskriminalamt, Telefon: 089-12121999

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Telefon: 0911-9434343