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Martin Schmitt über diesjährige Vierschanzentournee: "Auch ein Granerud macht Fehler"

Der Bergisel ist so etwas wie die Schicksalsschanze des norwegischen Überfliegers. Skisprung-Legende Martin Schmitt erklärt im AZ-Interview, warum - und was eigentlich mit den DSV-Adlern los ist.


Überflieger und Dominator: Nach den ersten beiden Springen ist Halvor Egner Granerud das Maß der Dinge bei der Vierschanzentournee - ob das auch nach seiner Schicksalsschanze in Innsbruck so sein wird?

Überflieger und Dominator: Nach den ersten beiden Springen ist Halvor Egner Granerud das Maß der Dinge bei der Vierschanzentournee - ob das auch nach seiner Schicksalsschanze in Innsbruck so sein wird?

Von Thomas Becker

AZ-Interview mit Martin Schmitt: Der ehemalige Skispringer holte bei den Winterspielen 2002 die Goldmedaille. Heute arbeitet der 44-Jährige als Experte für Eurosport.i

AZ: Herr Schmitt, wie viele Euro würden Sie zur Halbzeit der Vierschanzentournee auf einen Nicht-Sieg von Halvar Granerud wetten?

MARTIN SCHMITT: Naja, kommt auf die Quote an! (lacht) Nein, in solchen Dingen bin ich eher defensiv unterwegs. Aber klar, fast 27 Punkte Vorsprung auf Dawid Kubacki - das spricht schon für sich. Es kann natürlich immer etwas passieren. Er ist noch nicht durch. Ich hatte nochmal die Gelegenheit, sowohl mit Kubacki als auch mit seinem Trainer Thomas Thurnbichler persönlich zu sprechen: Sie wissen natürlich, wie gut Granerud ist, sagen aber auch, dass sie bei den ersten beiden Stationen der Tournee nicht am Optimum waren. Kubacki kann besser springen, als er das in Oberstdorf und Garmisch gezeigt hat. Sie glauben, dass er nach wie vor mithalten und auf gleichem Niveau springen kann. Auch ein Granerud macht mal einen Fehler - das hat man in Garmisch in der Qualifikation gesehen. Heißt: Das polnische Team mit Kubacki und dem Drittplatzierten Piotr Zyla kann jetzt auch nur seine Leistung anbieten und muss auf einen Fehler von Granerud hoffen.

Eine Tournee zum Vergessen für DSV-Adler Markus Eisenbichler: "Er ist ein Springer, der über das Gefühl kommen muss", sagt Martin Schmitt.

Eine Tournee zum Vergessen für DSV-Adler Markus Eisenbichler: "Er ist ein Springer, der über das Gefühl kommen muss", sagt Martin Schmitt.

Der ja nicht völlig unwahrscheinlich ist, schließlich hat der Norweger mit der berüchtigten Innsbrucker Bergisel-Schanze in der Vergangenheit nicht die allerbesten Erfahrungen gemacht.

Er hat hier ein Mal die Tournee verloren, und natürlich ist das noch irgendwo im Hinterkopf. Aber er sollte daran keinen Gedanken verschwenden, und ich wüsste jetzt nicht, wieso sein Sprung auf dieser Schanze nicht funktionieren sollte. Unter normalen Umständen schätze ich ihn auch in Innsbruck wieder sehr stark ein. Aber wenn es am Bergisel windig ist, kann das schon Einfluss auf das Gesamtergebnis haben, so wie bei dem Springen, als Granerud die Tournee verlor. Gestern war es hier ganz schön windig, heute soll es laut Wetterbericht gut sein. Ich glaube nicht, dass Granerud eine größere Schwäche zeigt, sondern dass er auf dem Niveau weiterspringt.

Wenn die Innsbrucker Windlotterie überstanden ist, dürfte beim letzten Springen in Bischofshofen nichts mehr anbrennen, oder?

In Bischofshofen sind die Verhältnisse viel stabiler. Die Schanze dort hat natürlich auch ihre Besonderheiten, aber von den Bedingungen her ist es viel absehbarer, was passiert. Granerud dürfte dort mit seinem Selbstvertrauen noch mehr Sicherheit bekommen.

Stichwort Selbstvertrauen: Wo ist das der deutschen Springer abgeblieben? Doppel-Weltmeister Karl Geiger, der in Innsbruck gestern sogar in der Qualifikation scheiterte, und Olympiasieger Andreas Wellinger werden den Tourneesieg sehr wahrscheinlich verpassen.

Es zählt halt nur der Sieger, ganz klar. Es ist schön, aufs Podest zu kommen, aber wenn wir ehrlich zu uns sind, zählt doch nur Platz eins. Das ist bei diesem Wettkampfformat einfach so. Deswegen ist die Enttäuschung auch da. Wobei man berücksichtigen muss, wo zum Beispiel Andreas Wellinger herkommt. Er hat in den letzten Monaten wirklich eine tolle Entwicklung genommen und präsentiert sich jetzt stabil in den Top Ten. Da muss er weitermachen, dann wird es hoffentlich noch in dieser Saison mit einem Podest klappen - oder sogar noch bei dieser Tournee.

Teamkollege Markus Eisenbichler, noch so ein Doppel-Weltmeister, hat es dagegen zwei Mal in Folge nicht in den zweiten Durchgang der besten 30 geschafft.

Das ist halt Skispringen, da gibt es so Phasen. Im Vorfeld der Tournee hat er geklagt, dass er nicht so richtig das Gefühl hat, keinen Zugriff auf seinen Sprung. Er ist ein Springer, der über das Gefühl kommen muss. Dieses Spiel mit den Luftkräften beherrscht er wie kein Zweiter, und wenn das Gefühl nicht da ist, ist es einfach schwierig. In Oberstdorf hat er das schon ganz gut weggesteckt, dann in Garmisch weitergemacht - natürlich fehlt ein Stück zur Spitze, aber momentan geht es nicht um Top-Platzierungen, sondern darum, wieder Stabilität und einen guten Rhythmus in seinen Sprung zu bringen. Für die meisten ist ja spätestens nach Garmisch die Gesamtwertung auch kein Thema mehr. Die Springen sind aber auch reizvolle Einzel-Events, bei denen man sich entsprechend präsentieren will. Und an Innsbruck hat Eisei gute Erinnerungen, hier ist er schließlich schon mal Weltmeister geworden.

Mit Philipp Raimund vom SC Oberstdorf ist als derzeit Gesamt-14. ein neues Gesicht aufgetaucht. Was halten Sie von dem 22-Jährigen?

Er war zum Weltcup-Auftakt schon mal dabei, musste dann zurück in den Continental Cup und hat das angenommen, dort auch ein Springen gewonnen. Jetzt will er - glaube ich - aus dem Weltcup-Team nicht mehr raus. Er macht das gut, es ist ganz erfrischend, wie er sich präsentiert. Er hat seine Sachen technisch beisammen, ein System, das funktioniert, ein gutes Set-up in der Luft, einen guten Absprung, ist sehr athletisch und kann seine Qualitäten momentan sehr gut ausspielen.

Und er ist nach längerer Zeit mal wieder ein neues Gesicht im DSV. Wie ist es denn generell um den Nachwuchs bestellt? Ist da sozusagen etwas im Anflug?

Es ist momentan nicht so, dass ganz Junge da sind, die an der Schwelle zum Weltcup stehen. Sie sind eher in der zweiten Reihe. Im Anschlussbereich ist der DSV derzeit schon ein bisschen dünn aufgestellt. Da können die Österreicher sicher auf ein breiteres Fundament zurückgreifen.

Ist das womöglich auch der immer stärker in den Fokus rückenden Klima-Debatte geschuldet, dass Wintersport im Allgemeinen nicht mehr so zieht?

Damit würde man es sich zu einfach machen. Natürlich wünscht man sich einen Winter mit Schnee, damit auch der Nachwuchs gut trainieren und wettkämpfen kann. Da waren die letzten Jahre sicher nicht einfach, weil man im Nachwuchsbereich auch durch Corona stark eingeschränkt war. Zudem waren einige Schanzen nicht bereit, mussten umgebaut werden, so dass der Trainingsbetrieb nicht optimal lief. Aber generell gibt es im Schülerbereich genügend Athleten, die diesen Sport ausüben. Die Begeisterung für Skispringen ist auf jeden Fall da.