Genie und Wahnsinn
Nächster Königsklassen-Sieg des FC Bayern: Nur Sané wirkt unglücklich
9. November 2023, 18:36 Uhr
Der FC Bayern steht nach dem 2:1-Sieg gegen Galatasaray Istanbul vorzeitig im Achtelfinale der Champions League. So richtig freuen konnte sich Leroy Sané darüber allerdings nicht. Der Münchner Flügelstürmer haderte mit seinen vergebenen Torchancen – und abermals mit einer Auswechslung.
Gemächlich stapft er in der 72. Spielminute Richtung Auslinie. Kurzes Abklatschen mit Mathys Tel, dann ab in die Kabine. Keine Lust auf die Bayern-Bank. Nicht zum ersten Mal erweckt Leroy Sané den Eindruck, den persönlichen Erfolg über den der Mannschaft zu stellen. Nach Spielende unterhält sich der 27-Jährige in den Stadionkatakomben lange mit Kerem Demirbay, seit Sommer in Diensten des türkischen Rekordmeisters. Man kennt sich aus der Schalker Jugend. Darüber hinaus wirkt Sané kaum in Plauderlaune.
Der Offensivspieler ist in dieser Saison einer der wichtigsten Leistungsträger des FC Bayern, profitiert davon, dass er mit Harry Kane wieder einen namhaften Stoßstürmer neben sich hat, der Gegenspieler auf sich zieht und nebenbei auch noch ein Auge für seine Teamkollegen hat. Sané, in den Vorjahren oft für Lethargie und seine Körpersprache scharf kritisiert, scheint in der Form seines Lebens zu sein. Nach zehn Bundesliga-Partien hat er mit acht Treffern bereits so viele Tore erzielt wie in der gesamten Vorsaison in 32 Einsätzen und mehr als in den beiden Spielzeiten davor.
Zahlen belegen Sanés Topform
Und auch seine Dribbelstärke spiegelt sich in Statistiken wider: Laut Datenanbieter Opta gelangen Sané in der laufenden Saison bereits 40 erfolgreiche Dribblings - ein Bestwert in den fünf europäischen Top-Ligen. Mit 30 Torschüssen gehört er zu den umtriebigsten Angreifern der Bundesliga. Zudem kreierte er 28 Chancen für seine Teamkollegen. Er kann als einziger Spieler in den großen europäischen Ligen in den drei Kategorien Dribblings, Schüsse und Chancenerstellung jeweils mehr als 25 erfolgreiche Aktionen vorweisen.
Leroy Sané scheint sein überbordendes Talent nunmehr konstant abrufen zu können, ist in seiner aktuellen Form fast unverzichtbar für den Rekordmeister. Der gebürtige Essener ist in seiner vierten Spielzeit endgültig in München angekommen. Der FC Bayern und Leroy Sané - nun also doch eine Erfolgsgeschichte. Mit einem Makel: Gelegentlich legt der talentierte Angreifer Allüren an den Tag, die mittelfristig weder bei den Fans noch innerhalb der Mannschaft Anklang finden dürften. Und nach wie vor wird Sané in der Allianz Arena mitunter mit Pfiffen bedacht, wenn er nach Meinung der Zuschauer zu früh vom Sprint in den Trab verfällt und den Eindruck von geradezu empörender Lässigkeit vermittelt.
Was Leroy Sané auszeichnet, ist die pure Spielfreude. Wie es der Linksfuß findet, ausgewechselt zu werden, hat er zuletzt wieder unverhohlen zum Ausdruck gebracht. Als Bayern-Trainer Thomas Tuchel ihn am Samstag in der 89. Spielminute beim Stand von 4:0 - obendrein gelbvorbelastet - in Dortmund vom Feld nahm, musste er länger auf seinen kopfschüttelnden und sichtlich frustrierten Spieler einreden. Nicht weniger gefrustet ging Sané am Mittwochabend beim Spiel gegen Galatasaray vom Platz, diesmal beim Spielstand von 0:0. Gefrustet wohl vor allem deshalb, weil er zweimal (14. Minute/30.) am Istanbuler Torhüter Fernando Muslera gescheitert und in der zweiten Spielhälfte kaum noch in Erscheinung getreten war. Für die Tore sorgte diesmal ausschließlich Kane.
Eine der größten Aufgaben für Tuchel
Nun mag es nichts Neues sein, dass ein Ausnahmespieler ein gewisses Maß an Eigensinn an den Tag legt. Das kennt man beim FC Bayern nicht zuletzt aus Ribery-und-Robben-Zeiten, als Randale bei Auswechslungen fast schon zur Gewohnheit wurden. Damit der Frust eines Einzelnen aber nicht in Missstimmung in der ganzen Mannschaft umschlägt, ist nun der Bayern-Trainer gefragt. Sané bei Laune zu halten - auch in schwierigeren Phasen -, ist eine der ganz großen Aufgaben von Thomas Tuchel. Zumal Sanés Vertrag 2025 ausläuft und im kommenden Sommer wohl eine Grundsatzentscheidung über eine Rückkehr nach England oder einen langfristigen Verbleib in München getroffen wird. Vor allem von der Moderation des Trainers hängt es ab, ob bei Sané dauerhaft das (Fußball-)Genie oder der Wahnsinn überwiegt.