Transgenerationales Trauma
Die unsichtbaren Wunden eines Holocaust-Überlebenden in Ergoldsbach

Tonia Anders
Wohl zum letzten Mal stehen die amerikanischen Geschwister vor dem Wohnhaus mit Blick auf einen der Scheunenteile, wo Anna Gnadl 13 Juden - darunter den Vater der beiden - versteckt hielt. Das Gebäude soll abgerissen werden.
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Im Video erzählt Tonia Anders aus der Landkreisredaktion in Landshut, wie die Geschichte hinter diesem Türchen entstanden ist.
Martin und Susan Rauchwerk sind Reisen gewohnt. Ihre Kindheit war voll von Streifzügen um die Welt. Und dennoch ist der Trip nach Ergoldsbach für das amerikanische Geschwisterpaar etwas ganz Besonderes. Es ist eine Reise in die Vergangenheit ihres Vaters Endre Rauchwerk. Der damals 17-jährige Ungar überlebte den Holocaust. Er war einer der 13 Juden, die Ergoldsbacherin Anna Gnadl zusammen mit den Polizisten Max Maurer und Josef Kimmerling Ende April 1945 auf ihren Hof in ihrer Scheune versteckte und so vor den geladenen Gewehrläufen der SS-Offiziere bewahrte.
80 Jahre ist es her, dass Gnadl die Scheunentür aufriss und den Versteckten die Nachricht über das Kriegsende und ihr Leben in Freiheit entgegenrief. Doch war die Verfolgung für Überlebende mit der Unterschrift auf einer Kapitulationsurkunde wirklich vorbei? Bei ihrem Besuch am Gnadlhof - einem für die Familie so wichtigen Ort - erzählen die Rauchwerks von den tiefgreifenden Spuren des väterlichen Traumas und wie sich diese seelischen Schmerzen auf ihre Kindheit und ihr eigenes Leben auswirkten.
"Gebt dem Bösen nicht die Chance, zu gewinnen"
Neben den Geschwistern Rauchwerk und deren Familien sind auch Gnadls Enkelsöhne Konrad und Wolfgang und der Urenkel Fabian da. Vor der Gedenktafel seines Vaters in der Dominik-Brunner-Mittelschule zieht Martin Rauchwerk einen abgegriffenen Umschlag aus seinem Rucksack. In ihm befinden sich alte Fotos aus dem Jahre 1972. Darauf zu sehen sein Vater Endre und der Dorfpolizist Max Maurer beim letzten Treffen vor Ort. Auch diese Begegnung will der 62-Jährige für die Nachwelt festhalten. Im Vergleich zu seinem analogen Bilderstapel sind auf dem Handybildschirm heute jedoch keine Zeitzeugen von damals mehr zu sehen. Vielmehr grinsen zwei Familien in die Kamera. Zwei Familien, die eines verbindet: die Geschehnisse vom 28. auf den 29. April 1945.
Ganz als wüsste sie nichts vom ernsten Hintergrund dieser Erinnerungs-Tour, scheint die Sonne an diesem Apriltag - 80 Jahre nach Kriegsende - fast unverschämt warm. Aber auch Martin Rauchwerk strahlt. Die Familie sei nicht gekommen, um die Vergangenheit wie einen Verstorbenen zu beweinen. Im Gegenteil: Sie seien hier, um die Erinnerung am Leben zu halten. Ohnehin würden die Menschen oft sehr sentimental auf die Geschichte ihres Vaters reagieren, sagt Susan Rauchwerk. Das ist aber nicht das Gefühl, das sich die 65-Jährige wünscht: "Menschen sollen nicht weinen über das, was passiert ist, sie sollten wütend werden, dass es passiert ist und Sorge tragen, dass es sich nicht wiederholt." Ein Wunsch, den die Tochter von ihrem Vater übernommen hat. Zeit seines Lebens predigte er seinen Kindern, "gegen das Böse anzukämpfen und es nicht gewinnen zu lassen". Es war laut dem Sohn auch jener Leitspruch, der den damals 17-Jährigen am Leben hielt.
Und genau deshalb kommen die Rauchwerks immer wieder nach Ergoldsbach, um Erzählungen ihres Vaters zu vervollständigen, um vergilbte Bilder zu erneuern und um verblassende Erinnerungen aufzufrischen - für sich, für ihre Kinder, für spätere Enkelkinder und für alle nachfolgenden Generationen. "Wir können das Leid unseres Vaters nicht ungeschehen machen", sagt Susan Rauchwerk, "aber wir können verhindern, dass es in Vergessenheit gerät".
Das stille Vermächtnis ihres Vaters
Wissbegierig lauschen die Geschwister den Recherchen des Geschichtsarbeitskreises Ergoldsbach. Dabei saugen sie die Informationen auf wie Schwämme. Sie nicken. An manchen Stellen schütteln sie fassungslos ihre Köpfe. Hin und wieder entfährt ihnen ein "Wow", oder ein "Awesome". "Bei jedem Besuch erfahren wir etwas, dass wir noch nicht wussten und bekommen so einen weiteren Teil unserer Familiengeschichte zurück", sagt Martin Rauchwerk. Er sei dankbar, dass die Geschichte seines Vaters und die der zwölf Leidensgenossen hier bewahrt sei.
Dass es im Ergoldsbach Orte des Erinnerns gibt, ist nicht selbstverständlich. Die Debatte, wie es der Markt mit seiner Erinnerungskultur handhaben will, wird seit Jahren kontrovers geführt: Während sie den einen nicht weit genug geht, würden die anderen die Gemeindegeschichte zur NS-Zeit gerne weniger sichtbar exponieren - ganz wie die dunklen Nazi-Dokumente in den Schubläden im Obergeschoss des Goldbachmuseums.
Am Verkehrskreisel beim neuen Heimatmuseum macht Heinrich Mayer Halt und deutet auf das Gebäude an der Dörnbacherstraße mit der Hausnummer 2. Nach Kriegsende sei dort zeitweise der Sitz der jüdischen Kulturgemeinde mit 137 Mitgliedern und einer Mikwe - einem Tauchbad für die religiöse Reinigung - gewesen. Wie Dokumentarfilmer zücken die Geschwister ihre stets griffbereiten Handys, richten sie auf den Erzählenden, der ihnen einen weiteren bislang unbekannten Teil ihrer Lebensgeschichte in die Kameralinse spricht.
Geerbtes Trauma: ein Mann mit zwei Gesichtern
Auf den Weg zum Gnadlhof plaudert Gnadls Urenkel Fabian auf Englisch mit den Rauchwerk-Enkelsöhnen, Jason und Firew. Es wirkt fast familiär. Ein Umstand, der Endre Rauchwerk sicher gefallen hätte. Während ihrer Kindheit mussten sich die drei Rauchwerk-Kinder Michael, Susan und Martin nur an wenige Regeln halten. Genau genommen waren es zwei. Regel Nummer eins: Die Familie steht an erster Stelle. Wenig verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Vater bereits mit 17 Jahren seine verlor. Martin Rauchwerk erinnert sich in diesem Zusammenhang an keinen Tag seiner Schulzeit, an dem der Vater nicht am Fenster stand, um dem kleinen Schulbuben zu winken, bis er nicht mehr zu sehen war.
Regel Nummer zwei: Essen wird nicht verschwendet. Ebenso wenig verwunderlich, betrachtet man den Zustand des Vaters am Tag seiner Rettung. Mit nurmehr 37 Kilo führten die Alliierten den jungen Mann durch das Scheunentor. Ein halbes Jahr lang päppelten die Gnadls den Unterernährten anschließend mit Brei ins Leben zurück. Die Mahlzeit sollte auch später für immer seine Leibspeise bleiben. "Essen wurde in unserer Familie mit Liebe gleichgesetzt", erzählt Susan Rauchwerk und kneift sich beherzt an ihr Hüftgold. "Wie man sieht, habe ich besonders viel Liebe abbekommen", sagt sie scherzhaft. Egal zu welcher Tages- und Nachtzeit man nach Hause kam, die erste Frage war immer "Hast du Hunger?", ergänzt sie.
Wenn die Rauchwerks an ihren Vater denken, kommt ihnen außerdem seine unstillbare Reiselust in den Sinn. Ob das seine Art war, die damals verlorene Freiheit zu kompensieren? "Ganz sicher", bestätigen sie. Auch hielt er das Geld zusammen. Reichere Familien seien damals viel später "abgeholt worden", erklärte sich die Familie seine Sparsamkeit. Neben den fürsorglichen Attributen hatte der Vater jedoch auch noch eine andere Seite.
Ein entsetzlich lautes Schweigen
Über seine Gefangenschaft in Buchenwald sprach Endre Rauchwerk stets offen. Über die Gräueltaten, die er dort erlebte, schwieg er hingegen, "um die Kinder nicht zu verängstigen", sagt der Sohn. Erst im Zuge der Feierlichkeiten anlässlich der Ehrung als "Gerechter unter den Völkern" von Max Maurer 1997 in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem erfuhren Rauchwerks erwachsene Kinder vom Ausmaß des Leids ihres Vaters.
Aber auch ohne das Wissen ließ sein Verhalten tief in seine stark verwunderte Seele blicken: Am auffälligsten war seine "extrem kurze Zündschnur", sagt Martin Rauchwerk. Oft wegen Kleinigkeiten explodierte er wie ein Pulverfass. Auch noch gut 50 Jahre später erinnern sich seine Kinder an einen Restaurantaufenthalt und den Fauxpas eines Kellners, der Rauchwerk versehentlich den Tellerinhalt über das Hemd kippte. Die Wut des Vaters ergoss sich über die Bedienung, wie die Tomatensoße über das Oberteil und gipfelte in den Worten: "Warum musste das alles mir passieren". Worte, die seine Familie wahrscheinlich anders einzuordnen wussten als der Angestellte.
Ein besonders beliebtes Ziel für seine verbalen Aggressionen war Susan. Ihre Mutter erzählte ihr, dass sie ihren Vater wohl sehr an seine verstorbene Schwester erinnert habe. "Er hat nie verkraftet, dass er derjenige war, der seiner Familie riet, sich in der Synagoge vor den Nazis zu verstecken. Dort griffen sie sie dann auf. Er gab sich die Schuld an deren Tod." Von seiner Familie wurde er für sein Verhalten dennoch nie verurteilt: "Wir wussten ja, warum er so war. Wir hatten Verständnis. Die explosiven Ausbrüche waren einfach sein Ventil für das unsagbare Leid, das er ertragen musste und über das er nie sprach", erklärt Susan Rauchwerk die ambivalente Art ihres Vaters.
Beim Betreten des Grundstücks des Gnadlhofs verstummt die Gruppe für einen kurzen Moment. Sie blicken vom Haus in Richtung der Scheune. Es scheint, als würde der Wind neben den Kirschblüten auch einen Hauch Ehrfurcht über den Hof wehen. Der Zivilcourage dreier Ergoldsbacher verdankte Endre Rauchwerk sein Leben und das seiner Kinder und Enkel.






















