AZ-Interview

Wohlfahrtsverbands-Chef: "Hartz-IV-Sanktionen bringen nichts"


Am Dienstag entscheidet das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe über Sanktionen für Arbeitslose.

Am Dienstag entscheidet das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe über Sanktionen für Arbeitslose.

Von Vanessa Fonth

Am Dienstag verhandelt das Verfassungsgericht über Kürzungen von Hartz-IV-Leistungen. Der Paritätische hat dazu eine klare Meinung.

München - Darf der Staat Menschen in Existenznot bringen, um Druck auszuüben? Mit dieser Frage beschäftigt sich am Dienstag das Bundesverfassungsgericht. Die Überprüfung der Leistungskürzungen für Hartz-IV-Empfänger hat das Sozialgericht im thüringischen Gotha angestoßen. Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, nimmt im AZ-Interview zu dem Thema Stellung.

AZ: Herr Schneider, heute steht Hartz IV auf dem Prüfstand. Kommen die Hüter der Verfassung der Politik wieder einmal zuvor und kippen die Sanktionen?
ULRICH SCHNEIDER: Das wollen wir auf jeden Fall hoffen. Wir haben einerseits fachlich ungeheure Schwierigkeiten mit den Sanktionen, weil sie in der Praxis nichts bringen. Und wir haben andererseits schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken. Es kann nach Artikel 1 unseres Grundgesetzes nicht sein, Menschen durch eine Kürzung einer staatlichen Leistung in ein Leben unterhalb des Existenzminimums zu schicken.

Ulrich Schneider: Der 60-Jährige ist Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.

Ulrich Schneider: Der 60-Jährige ist Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.

Können die Verfassungsrichter daran überhaupt noch vorbeikommen?
Das kann ich nicht beurteilen, dazu reicht meine Fantasie nicht. Schon bei vergangenen Urteilen des Verfassungsgerichts hat meine Fantasie nicht gereicht, um zu sagen, das lässt das Bundesverfassungsgericht durchgehen. Damals hieß es trotz aller gravierenden Bedenken, die Regelung sei gerade noch zulässig.

Sanktionen treffen nur einen geringen Prozentsatz

Aber sind Sanktionen denn nicht auch notwendig, wenn sich Betroffene nicht an die Regeln oder an Auflagen halten?
Gerade einmal drei Prozent der Hartz-IV-Bezieher werden sanktioniert. Und lediglich ein halbes Prozent wird wegen wirklicher Arbeitsverweigerung bestraft. Meist geht es um versäumte Termine oder andere kleinere Verstöße. Da stellt sich die Frage: Ist die Verhältnismäßigkeit überhaupt noch gewahrt? Wäre es nicht sinnvoller, die Job-Center würden sich um die 97 Prozent kümmern, die arbeiten wollen?

Gleichzeitig sagt das Sozialgericht, die Pflicht, jede angebotene Arbeit anzunehmen, käme einer "Zwangsarbeit" gleich. Aber ist eine Arbeitsstelle nicht besser als kein Job?
Nein. Es gibt Arbeit, die ist unzumutbar und kann Menschen krank und fertig machen. Wir fordern daher, dass bei Hartz IV die gleichen Zumutbarkeitsregeln gelten wie beim Arbeitslosengeld I, damit man nicht gleich vom ersten Tag an alles machen muss. Ansonsten wird die Lebensleistung von Menschen mit Füßen getreten.

Schluss mit dem negativen Menschenbild

Sollte Karlsruhe die Sanktionen für verfassungswidrig erklären: Wäre das der Anfang vom Ende der Agenda 2010?
Es würde endlich Schluss gemacht werden mit dem negativen Menschenbild, das hinter der Agenda 2010 steht. Sie geht davon aus, dass die Menschen von Grund auf faul sind. Die meisten Hartz-IV-Bezieher arbeiten. Von den 4,4 Millionen erwerbsfähigen Beziehern sind nur 1,4 Millionen arbeitslos.

Die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles strebt eine Hartz-IV-Reform an. Wie sollte die aussehen?
Im Zentrum steht, dass sich die Regelsätze endlich erhöhen müssen, um tatsächlich existenzsichernd zu sein. Eine Anhebung von derzeit 424 auf 570 Euro halten wir für zwingend notwendig. Zudem fordern wir die Abschaffung der Sanktionen und die Einführung eines Rechts auf Arbeit, auch für die Langzeitarbeitslosen. Wer arbeiten will, muss auch arbeiten können. Und wenn der erste Arbeitsmarkt das nicht schafft, muss es ein öffentlich geförderter Arbeitsmarkt möglich machen.