Politik

Steile Thesen: Siko-Chef Heusgens veröffentlicht neues Buch

Was hätte man tun müssen, damit es nicht zum Krieg in der Ukraine kommt? Dazu hat der Ex-UN-Botschafter ganz eigene Ansichten.


Christoph Heusgen bei seiner Buchvorstellung in München.

Christoph Heusgen bei seiner Buchvorstellung in München.

Von Ralf Müller

München - Auf seine ehemalige Chefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) lässt Diplomat und Sicherheitskonferenz-Leiter Christoph Heusgen nichts kommen. Die Abhängigkeit vom russischen Erdgas und den Bau der nie in Betrieb genommenen Pipeline Nord Stream 2 könne man der Altkanzlerin nicht anlasten, so der 67-Jährige bei der Vorstellung seines neuen Buches "Führung und Verantwortung" am Mittwochabend im Literaturhaus in München.

Fatale Fehlentscheidungen bei der Energie

Es enthält eine steile These: Merkel wäre vielleicht in der Lage gewesen, Russlands Präsidenten Wladimir Putin vom Angriff auf die Ukraine abzuhalten, ist der 250 Seiten starken Abhandlung zu entnehmen. Aber der Reihe nach: "Klar ist, dass die von Politik und Wirtschaft getragene Entscheidung, die Energieversorgung Deutschlands immer mehr in russische Hände zu geben, falsch war", räumt Heusgen auch in seinem Buch ein. Doch Merkel trage daran keine Schuld.

Die inzwischen gesprengte Nord-Stream-1-Pipeline habe die Kanzlerin von der Vorgängerregierung Gerhard Schröders (SPD) "geerbt", bei Nord Stream 2 hätten das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern und die Wirtschaft massiven Druck ausgeübt.

Bei der Erörterung der Ursachen für den heutigen Ukraine-Krieg wartet Heusgen mit einer neuen These auf. Außer der mit dem zweiten Amtsantritt Putins als Präsident Russlands zweifellos einhergehenden innen- und außenpolitischen Verhärtung habe womöglich die Corona-Krise zur verhängnisvollen Angriffsentscheidung des Kreml-Herrschers beigetragen. Zwei Jahre lang habe es keine persönlichen Begegnungen und Gespräche Putins mit ausländischen Politikern gegeben.

In dieser Zeit hätten sich nur "Ja-Sager" um ihn versammelt mit der Folge, dass sich der Präsident immer mehr in seine großrussischen Visionen vergraben habe. Ist also Putin in der Isolation auf dumme Gedanken gekommen?

Und noch ein wenig steiler: Ex-Kanzlerin Merkel wäre vielleicht die einzige gewesen, die Putin von seinen Plänen hätte abbringen können, spekuliert der Berater in seinem Buch. Denn Merkel sei eine der wenigen gewesen, die Putin "respektiert" habe. Was dem Kreml-Chef nicht davon abgehalten habe, mit der Angst der deutschen Kanzlerin vor großen Hunden zu spielen. Bei einem Besuch in Moskau Anfang 2006 habe ihr Putin einen großen Plüschhund überreicht mit der Bemerkung, der könne ja nicht beißen. Später habe er ganz bewusst Merkel mit einem echten großen Hund konfrontiert.

Bis zuletzt habe man im Westen an die Kriegspläne Putins trotz aller negativen Vorzeichen nicht so recht glauben können, berichtete Heusgen vor interessiertem Publikum in München. Die Sicherheitskonferenz 2022, die wenige Tage vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine stattfand, habe starke und eindeutige Signale der Weltgemeinschaft nach Moskau gesandt. "Der muss das doch mitkriegen", hätten viele gehofft, doch es kam bekanntlich anders.

Jetzt sieht Heusgen keine Gesprächsgrundlage mit Putin mehr, sondern nur noch eine Perspektive für den Kreml-Herrscher: Ein internationales Strafverfahren wie die Nürnberger Prozesse oder die Jugoslawien- und Ruanda-Tribunale. Zu der heute beginnenden Sicherheitskonferenz wurden Vertreter der russischen Regierung nicht eingeladen. Putin habe nicht nur Tausende von Menschenleben auf dem Gewissen und sein eigenes Land ruiniert, sondern auch dafür gesorgt, dass weltweit nun wieder viele Milliarden in die Rüstung gesteckt würden, statt sie gegen die "größte Bedrohung Klimawandel" zu investieren.

Bei den Spekulationen über das Russland nach Putin eröffnet Heusgen in seinem Buch eine ungewohnte Perspektive. Der russische Ex-Ministerpräsident Dmitri Medwedew, der sich gegenwärtig selbst mit Hasstiraden gegen die Ukraine und den Westen überbietet, könnte vielleicht künftig die Geschicke des Riesenlandes leiten und an den vorsichtigen Liberalisierungskurs seiner Jahre als Platzhalter Putins im Präsidentenamt anknüpfen, spekuliert Heusgen. Medwedew geriere sich zur Zeit womöglich nur deshalb so "brutal", um sich bei den Hardlinern in Moskau als Nachfolger Putins in Stellung zu bringen.

HORIZONTALE LINIE

Christoph Heusgen: "Führung und Verantwortung. Angela Merkels Außenpolitik und Deutschlands künftige Rolle in der Welt" ist ab sofort im Handel erhältlich.
Siedler Verlag, 256 Seiten,
Hardcover 24 Euro,
ISBN: 978-3-8275-0169-1i