Politik

Migrationsforscher Ruud Koopmans: "Das ist extrem ungerecht"

Ruud Koopmans hateine Bilanz der Flüchtlingspolitik seit 2015 gezogen. Er sagt: Den Schutzbedürftigsten helfen wir nicht.


Flüchtlinge sind im Jahr 2016 auf dem Weg zu einem Transit-Camp, nachdem sie die Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien überschritten haben.

Flüchtlinge sind im Jahr 2016 auf dem Weg zu einem Transit-Camp, nachdem sie die Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien überschritten haben.

Von Martina Scheffler

AZ-Interviewmit Ruud KoopmansKoopmans ist Professor für Soziologie und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor der Forschungsabteilung "Migration, Integration, Transnationalisierung" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

AZ: Herr Professor Koopmans, Sie schreiben in Ihrem Buch "Die Asyl-Lotterie", das europäische Asylregime sei ein Spaltpilz - was ist der gravierendste Mangel dieses Regimes?

RUUD KOOPMANS: Das Allergravierendste sind die entsetzlichen Todeszahlen im Mittelmeer und auf der Migrationsroute durch die Sahara. Das europäische Asylsystem hat in den letzten zehn Jahren mehr als 20 000 Tote gefordert. Das Risiko, bei der Überfahrt über das Mittelmeer oder beim Weg durch die Sahara zu sterben, ist größer als das Risiko, in einem Bürgerkrieg etwa in Syrien oder Somalia zu sterben. Das kann natürlich niemals der Sinn einer Flüchtlingspolitik sein, die dafür gedacht ist, Menschen Schutz zu bieten.

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Ruud Koopmans

Wo ist der große Fehler im System?

Wir bieten Schutz nur Menschen, die sich an der europäischen Grenze melden und Asyl beantragen, also entweder an einer Land- oder an einer Seegrenze. Das bedeutet, dass wir das Recht auf Asyl nur denen gewähren, die sich auf einen meistens sehr langen und gefährlichen Weg machen zu den europäischen Grenzen hin. Das hat nicht nur die horrenden Todeszahlen zur Folge, sondern auch, dass die Asylbevölkerung sehr ungleich zusammengesetzt ist. Es gibt diese sehr starke Überrepräsentation von jungen Männern. Kinder, Frauen, ältere Menschen, Kranke sind stark unterrepräsentiert oder gar nicht imstande, den Weg nach Europa zu gehen. Das ist extrem ungerecht.

Wie kann man denen helfen, die am meisten des Schutzes bedürfen?

Indem man Menschen direkt über sogenannte Kontingentaufnahmen oder humanitäre Aufnahmen aus den Fluchtländern oder den Erstaufnahmeländern aufnimmt. Dann kann man diese Menschen auch überprüfen, eine Sicherheitsprüfung abnehmen, dafür sorgen, dass diejenigen ausgewählt werden, die unsere Hilfe tatsächlich am meisten brauchen, kompletten Familien Asyl gewähren. Dieses Instrument gibt es schon in Zusammenarbeit mit dem UNHCR (Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, d. Red.), aber die Zahlen sind extrem gering. Das ist die Ausnahme, die zur Regel werden sollte. Dafür muss man Kapazitäten frei machen. Die Großzügigkeit in Bezug auf direkte Aufnahme aus den Ländern geht nur, wenn man gleichzeitig die irreguläre Zuwanderung stark zurückdrängt.

Die EU hat jüngst beschlossen, illegale Migration unter anderem mit stärkerem Grenzschutz und intensiverem Kampf gegen Schlepper einzudämmen. Ist das der richtige Weg?

Nein. Solche Mittel, auch die illegale Praxis der Pushbacks wie etwa in der Ägäis, sind nicht in Übereinstimmung mit dem internationalen Flüchtlingsrecht. Wir lassen dann zwar das Flüchtlingsrecht unberührt, sorgen aber dafür, dass niemand mehr nach Europa reinkommt und dieses Recht in Anspruch nehmen kann. Das kann nicht die Lösung sein.

Welche Vorschläge haben Sie zur Lösung?

Rücknahmeabkommen mit Herkunftsländern. Die Herkunftsländer versprechen, abgelehnte Asylbewerber zurückzunehmen, im Gegenzug bieten europäische Länder eine Quote für Arbeitsmigration für Menschen, für die wir einen Bedarf haben. Der zweite Vorschlag: Wenn Menschen sich an europäischen Außengrenzen melden, dann haben sie nach internationalen Standards das Recht, Asyl zu beantragen, aber nirgendwo steht geschrieben, dass Flüchtlinge das Recht haben auszusuchen, wo sie Schutz genießen möchten. Wenn man mit Drittstaaten um Europa herum Abkommen schließen kann, dass dort Asylverfahren durchgeführt werden, wenn diese Länder garantieren, das internationale Flüchtlingsrecht zu respektieren und insbesondere Flüchtlinge nicht abzuschieben in Verfolgungsländer, kann man Asylverfahren in Ländern wie Tunesien durchführen. Nur sehr wenige Menschen werden sich auf den Weg von der Türkei nach Europa begeben, wenn sie wissen, dass sie zwar Schutz bekommen, aber in Tunesien oder Albanien und nicht in Deutschland oder den Niederlanden. Das schafft die Freiräume, mit denen man großzügige humanitäre Aufnahmen realisieren kann.

Kann man sagen, dass die EU, dass Deutschland das Thema verschlafen hat oder aussitzen wollte?

Alle paar Jahre kommt das Thema wieder hoch, aber es passiert wenig. Man ändert nichts am System selbst. Die Bundesregierung hat eine Rückführungsoffensive angekündigt, aber das ist sehr schwer durchzusetzen. Die Barrieren, die einer Rückführung im Wege stehen, sind regelrecht eingebacken in das System und derart hoch, dass sogar die meisten der abgelehnten Asylbewerber nicht rückgeführt werden können. Man muss etwas an der Pforte machen: über strengere Grenzkontrollen, wobei man zwangsläufig gegen das internationale Flüchtlingsrecht verstößt. Der richtige Weg wäre, zu sagen: Schutz bekommt ihr nicht in Europa, sondern in einem Drittstaat.

Schauen wir auf die aktuelle Lage in Deutschland: Große Aufnahmezentren für Flüchtlinge in kleinen Kommunen, wo noch nicht viele andere Flüchtlinge leben, sorgen oft für Unfrieden. Auch Sie sagen, die gleichmäßige Verteilung von Flüchtlingen sei kontraproduktiv - aber dennoch wird weiter so verfahren, siehe die Proteste gegen ein Containerdorf in Upahl für 400 Menschen in einem Ort mit 500 Einwohnern. Warum verfährt der Staat so?

Weil in sehr kurzfristigen und engstirnigen politisch-administrativen Interessen gedacht wird. Es geht aber bei der Aufnahme von Flüchtlingen, die meist aus Ländern mit ganz anderen Werten als Europa und Deutschland stammen, nicht nur darum, dass alle Regionen ihren Beitrag finanziell gleichmäßig leisten sollen. Es ist auch die Integrationsfähigkeit von verschiedenen Regionen zu berücksichtigen. Die ist größer in Regionen und Städten, wo es eine längere Erfahrung mit Migration gibt, wo ethnische Gemeinschaften aus diesen Herkunftsgebieten vorhanden sind. Das Aufnahmevermögen ist einfach nicht gleich verteilt über die Bundesrepublik, auch nicht in Europa.

Flüchtlinge sind in der Kriminalitätsstatistik, gerade bei Straftaten gegen das Leben, Mord, Totschlag und vor allem Vergewaltigung, überrepräsentiert, schreiben Sie. Woran liegt das?

Der Anteil der jungen Männer aus Ländern mit einer stark patriarchalischen Kultur ist sehr hoch. Es ist schwer für sie zu verstehen, wie in Westeuropa mit Sexualität umgegangen wird. Außerdem haben viele Gewalt erlebt und gesehen. Das erhöht das Risiko, dass sie selbst Gewalt anwenden. Solche Erklärungen werden aber oft benutzt, um das Problem wegzudefinieren. Es hängt oft mit abgelehnten und chancenlosen Flüchtlingen zusammen, wird oft unter den Teppich gekehrt. Das ist ein wichtiger Grund, warum eine Partei wie die AfD die Flüchtlingskrise erfolgreich für sich nutzen konnte. Wenn die Menschen sehen, dass es bestimmte Probleme gibt, und von Presse, Politik und Wissenschaft gesagt bekommen, dass diese Probleme gar nicht existieren, wenden sich viele Leute an die einzige Partei, die das offen ausspricht - aber dann mit rassistischen Verallgemeinerungen. Wenn man so tut, als sei das Problem nicht existent, dann sucht sich dieser Unfriede einen Weg.

Werfen wir einen Blick zurück: Angela Merkel habe 2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise nicht anders handeln können, schreiben Sie. Sie wurde mit ihrem Flüchtlingsdeal aber zu einer Art Steigbügelhalterin des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan - wie bewerten Sie Merkels Rolle in der europäischen Asylpolitik? Wie groß ist ihr Anteil an der von Ihnen beschriebenen Misere?

Sehr groß. Wenn ich schreibe, sie habe nicht anders handeln können, meine ich exakt den Zeitpunkt September 2015, als es um die Flüchtlinge an der österreichisch-ungarischen und der deutsch-österreichischen Grenze ging. Aber vorher hätten Merkel und die damalige Bundesregierung schon anders handeln können. Der syrische Bürgerkrieg hat ja schon 2011 begonnen. Man hat vier Jahre lang nichts gemacht und gehofft, dass die direkten Nachbarstaaten Syriens das Problem lösen würden.

Was war die Folge?

Angela Merkel hat eine sehr bewusste, strategisch kalkulierte Entscheidung getroffen, diesen Deal mit Erdogan zu machen. Dadurch ist sie mitverantwortlich geworden für den Niedergang der Demokratie in der Türkei. Sie hat die Menschenrechte in der Türkei geopfert, um ihr selbst geschaffenes Problem in der Flüchtlingspolitik zu lösen, obwohl eine Alternative zur Verfügung stand: die Schließung der Balkanroute. Das hat sie als nicht vereinbar mit europäischen Werten bezeichnet, um dann den Deal mit einem Autokraten wie Erdogan zu machen. Merkel war auch nach 2015 noch mehrere Jahre im Amt, hätte eine grundlegende Reform des Asylrechts anstreben können, aber hat das verpasst. Die Folge: Wir drohen jetzt wieder in eine ähnliche Situation zu geraten.

Sie zitieren den damaligen griechischen Verteidigungsminister, der 2015 eine menschliche Welle mit Dschihadisten bis nach Berlin schicken wollte. Dann gibt es den besagten Flüchtlingsdeal mit Erdogan, es gab die Erpressungsversuche von Belarus' Machthaber Lukaschenko, der Flüchtlinge an die EU-Außengrenze bringen ließ - wem helfen wir eigentlich seit Jahren? Sind die Flüchtlinge fast alle ein Spielball der Autokraten?

Die Flüchtlingspolitik ist eine geopolitisch offene Flanke der Europäischen Union. Die Autokratien und Diktatoren um Europa herum wissen ganz genau, dass sie Europa unter Druck setzen können, wenn sie eine Welle von Flüchtlingen an die europäischen Außengrenzen ziehen lassen. Weil sie wissen, unter dem herrschenden Flüchtlingsrecht hat Europa nur zwei Möglichkeiten: Entweder es lässt die Menschen rein und wird in kurzer Zeit überschwemmt mit Millionen von Flüchtlingen, was die Rechtspopulisten stärkt, die oft die Allianzpartner von Wladimir Putin sind. Die andere Alternative: Grenzen schließen und Flüchtlinge zurückhalten - was man gemacht hat, als Lukaschenko Flüchtlinge an die litauische und polnische Grenze zu Belarus gebracht hat.

Wie profitieren dann die Autokraten?

Das ergibt hässliche Bilder und bietet den Autokratien die Gelegenheit zu sagen: Guckt doch mal, Europa verletzt die Menschenrechte, Nazimethoden! So können sie Druck ausüben. Auch deshalb ist es wichtig, dass wir uns aus dieser Zwickmühle befreien. Was das Gas für Putin war, sind Flüchtlinge für Erdogan: ein Mittel, um eine Carte blanche zu bekommen für die Unterdrückung der Menschenrechte in der Türkei oder den Einmarsch in Nordsyrien. Deutschland und die EU trauen sich nicht, etwas zu kritisieren, weil sie wissen: Es braucht nur ein Wort von Erdogan und die Busse mit Flüchtlingen starten wieder Richtung griechische oder bulgarische Grenze.

Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass Ihre Vorschläge zeitnah Realität werden könnten?

Einige der Ideen werden schon in der Politik diskutiert. Die deutsche Regierung verhandelt mit Gambia über ein Rücknahmeabkommen. Das kann funktionieren. Gambia ist zwar nur ein kleines Land und wird allein nicht viel lösen, aber wenn man Abkommen mit mehr und größeren Ländern abschließt, kann das einen Beitrag leisten. Großbritannien und Dänemark haben mit der Verlagerung von Asylverfahren in Drittstaaten begonnen. Beide Länder sind in Verhandlungen mit Ruanda - nicht unbedingt der beste Partner, aber die Idee wird auch in den Niederlanden diskutiert. Dienstag hat das Parlament beantragt, die Regierung solle diese Option prüfen. Auch die deutsche Bundesregierung hat angekündigt, diese Möglichkeit seriös prüfen zu wollen.

Ruud Koopmans: "Die
Asyl-Lotterie". C.H. Beck,
269 Seiten, 26,00 Euro,
ISBN 978-3-406-797385