AZ-Interview

Grünen-Chefin Annalena Baerbock: "Die Klimakrise wartet nicht"


Annalena Baerbock (38) ist seit Januar 2017 Vorsitzende der Bundes-Grünen.

Annalena Baerbock (38) ist seit Januar 2017 Vorsitzende der Bundes-Grünen.

Von André Wagner

Im Interview mit der AZ fordert Grünen-Chefin Annalena Baerbock einen schnelleren Ausstieg aus der Kohleenergie als bislang geplant.

Berlin - AZ-Interview mit Annalena Baerbock: Die 38-Jährige ist seit Januar 2017 Vorsitzende der Bundes-Grünen. Die Partei hat derzeit 75.311 Mitglieder - ein Allzeithoch.

AZ: Frau Baerbock, vor Ihrer Wahl zur Grünen-Chefin sagten Sie, Sie wollten nicht nur "die Frau an der Seite von Robert Habeck" sein. Fühlen Sie sich nach einem Jahr auf Augenhöhe?
ANNALENA BAERBOCK: Logo. Wir sind ein gutes Gespann, vertrauen uns, und Robert darf auch auf meinem Trampolin in unserem Büro hüpfen, wenn er will.

Sie fordern eine Frauenquote in Parlamenten. Würde das nicht die demokratische Wahlfreiheit der Bürger einschränken?
Nein, ein Paritätsgesetz würde unser Grundgesetz verwirklichen. In Artikel drei ist im zweiten Absatz festgelegt, dass der Staat bei Benachteiligung von Frauen aktiv auf Gleichberechtigung hinwirken soll. Genau das würde ein Paritätsgesetz tun. Es schreibt fest, dass gleich viele Frauen und Männer im Parlament wirken. 100 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts, sollte es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, das Geschlechterverhältnis der Bevölkerung auch im Deutschen Bundestag widerzuspiegeln.

"Ein Paritätsgesetz würde unser Grundgesetz verwirklichen"

Nach dem Erfolg des Artenschutz-Volksbegehrens in Bayern werden Rufe nach mehr direkter Demokratie auf Bundesebene laut. Wie stehen Sie dazu?
Direkte Bürgerbeteiligung kann die repräsentative Demokratie gut ergänzen, deswegen wollen wir sie auch auf Bundesebene ausbauen. Gleichzeitig gibt es zentrale Bereiche - etwa politische Grundrechte, Menschenrechte, aber auch Staatsziele wie Demokratie, Rechtsstaat, Föderalismus, Sozialstaat und Fragen der europäischen Integration -, die sich dafür nicht eignen.

Warum?
Weil sie zu Recht einen besonderen Schutzstatus haben und auch im Parlament nicht einfach so, sondern nur mit einer Zweidrittelmehrheit geändert werden können oder - wie die Grundrechte, die Staatsform - gar nicht angetastet werden dürfen. So wichtig die Debatte über mehr direkte Demokratie ist: Was nicht passieren darf, ist, dass Politiker es nutzen, um sich vor unangenehmen Entscheidungen und der Verantwortung zu drücken. Siehe Brexit: Die Volksabstimmung hat der damalige britische Premierminister David Cameron vom Zaun gebrochen, um seine politische Karriere zu retten - statt die britische, geschweige denn die europäische Demokratie. Und sie basierte auf Lügen der Brexit-Befürworter. Das dadurch angerichtete politische Chaos sehen wir gerade täglich.

"2022 ist Schluss mit Atomkraft"

Sie halten das geplante Kohleausstiegsdatum 2038 für zu spät. Ist ein früherer Ausstieg denn realisierbar? Immerhin steigt Deutschland auch aus der Atomkraft aus.
Ja, 2022 ist Schluss mit dieser hochgefährlichen Form der Energieerzeugung. Und bis dahin müssten auch die ersten Kohlekraftwerke vom Netz. Dass die Bundesregierung diesen zentralen Punkt des Kohlekompromisses nicht in Gesetzesform gießt, sondern die Umsetzung der ersten Phase bis zum Ende der Sommerpause aufschiebt, halte ich für fatal. Denn die Klimakrise wartet nicht.

Also doch kein schnellerer Ausstieg?
Die Vorschläge der Kohlekommission werden gegen Ende hin immer unpräziser. Ein früheres Ausstiegsdatum als 2038 wäre klimapolitisch essenziell. Daher hat die Kommission ja für 2023, 2026 und 2029 auch zusätzlich Revisionsklauseln eingebaut, um den Stand mit Blick auf die Klimaziele zu überprüfen. Das heißt, wenn man den Ausstieg jetzt ambitioniert anpackt, ist ein früheres Ausstiegsdatum durchaus realistisch. Ich richte deshalb meine politische Kraft voll darauf, dass der Einstieg in den Ausstieg auch schnell angegangen wird. Denn bei mir in der Lausitz geht es nicht nur um Klima und Arbeitsplätze, sondern auch darum, dass Menschen ihre Heimat behalten und ihre Häuser, Höfe und Dörfer nicht für die Kohle abgebaggert werden.

Was sagen Sie zum Vorschlag der Umweltministerin, einen Mindestpreis auf CO2-Emissionen einzuführen?
Das ist absolut überfällig. Die fossilen Energien sind ja nur deshalb noch wettbewerbsfähig, weil die Klima-, Umwelt- und Gesundheitskosten nicht wirklich eingerechnet sind. Ohne einen fairen CO2-Preis werden Innovation und technischer Fortschritt in unserem Land blockiert - wie emissionsfreie Hochöfen zur Stahlerzeugung zum Beispiel. Nicht ohne Grund hat ja nun selbst die deutsche Industrie in der Kohlekommission gefordert, die CO2-Bepreisung auszuweiten.

"Ein Mindestpreis auf CO2-Emissionen ist überfällig"

Wie stehen die Grünen zu den SPD-Sozialreform-Plänen?
Wir haben in den vergangenen Monaten ja einiges vorgeschlagen, um den Sozialstaat sicher und zukunftsfest zu machen - etwa eine Garantierente, eine Kindergrundsicherung oder eine soziale Garantiesicherung, um Hartz-IV zu überwinden. Insofern freut es uns natürlich, wenn die SPD jetzt Ähnliches debattiert. Allerdings muss das dann auch angepackt werden. Sonst geht nicht nur die Schere zwischen Arm und Reich in unserem Land weiter auseinander, sondern dann wird Vertrauen in Politik gefährdet. Wenn Kinder nicht zum Kindergeburtstag können, weil ihrer Mutter oder ihrem Vater am Ende des Monats das Geld fehlt, dann muss die Kindergrundsicherung dringend kommen. Leider aber fehlt sie in dem von der SPD vorgelegten Gesetz. Die zuständige SPD-Ministerin will auch an den absolut unzureichenden Hartz-IV-Sätzen für Kinder nichts ändern. Insofern: gute Ideen, aber dann bitte auch machen.

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