Leitartikel

Politik

Die Kunst sich selbst auszuhalten

Die Kunst sich selbst auszuhalten" ist ein Buchtitel, der sofort anspricht. Denn jeder Mensch weiß: Das ist oft das Schwierigste, dass man an jedem Morgen wieder neu mit sich selbst aufwacht und wieder neu mit sich anfängt. Deshalb hat der Jesuit und Philosoph Michael Bordt seinem kleinen Bändchen, das er so überschrieben hat, den Untertitel gegeben: "Ein Weg zur inneren Freiheit". Denn es ist, so schreibt der Philosoph, nicht einfach, immer wieder neu mit sich selbst anzufangen und diesen Weg zur inneren Freiheit zu gehen. Denn: "Sich selbst auszuhalten und bei sich bleiben zu können, bedeutet auch, zu akzeptieren, dass es einen Aspekt in unserem Leben gibt, den wir gerne ausblenden, der aber unausweichlich ist: die Einsamkeit
unserer Existenz."

Von der Einsamkeit:
Bordt beginnt seine Analyse unseres Seelenlebens also bei der Einsamkeit des Menschen, die dieser so sehr fliehe, die aber doch seine einzige Chance sei. Denn, so fährt Bordt fort: "Unsere Einsamkeit hängt damit zusammen, dass nur wir selbst in

unserer eigenen Haut stecken. Nur wir selbst wissen, wie es sich anfühlt, unser Leben zu leben und wir selbst zu sein." Das Fühlen der eigenen Einsamkeit also führt den Menschen ganz zu sich selbst, zu dem, was er nicht mehr erzählen kann oder
will oder was sich auch für ihn selbst nicht in Sprache fassen lässt. Für Bordt ist jeder Mensch auch sich selbst ein Geheimnis, das sich nicht enträtseln lässt. Es geht darum, was sich dem eigenen Bewusstsein entzieht. Was ins Verborgene führt, ins
Unbewusste, in die Welt der Träume, des Gefühls. Der Grund dafür aber liegt, so Bordt, "nicht in der Begrenzung unserer Sprache, sondern darin, dass diese Dimension unserer Existenz auch für uns selbst unergründlich bleibt. Es ist eine Dimension des menschlichen Lebens, auf die große Kunstwerke und die Religionen in ihrer Spiritualität eine Antwort geben wollen. Diese Dimension bleibt für uns selbst unerklärlich, weil wir nie in der Lage sein werden, unser eigenes Leben ganz und gar
zu verstehen und uns selbst gegenüber transparent zu sein. Unser inneres Leben ist tendenziell auch für uns selbst nicht vollständig durchschaubar, es bleibt auch für uns dunkel, manchmal überraschend und vielleicht chaotisch, nie mit Sicherheit
vorhersehbar, immer unbeherrschbar und bedürftig. Bei sich zu sein und sich selbst auszuhalten, setzt voraus, dass wir bereit sind, uns dieser Einsamkeit zu stellen."

Die geschäftige Welt:
Als primäre Fluchtmöglichkeit vor uns selbst diagnostiziert Bordt unsere Geschäftigkeit im Alltag, mit der wir täglich vor uns selbst wegzulaufen versuchen. Unser falscher Stress, unsere angemaßten Verantwortlichkeiten, unsere täglichen kleinen Fluchten, die uns beständig von uns selbst wegführen. Der französische Philosoph Blaise Pascal hat es so formuliert: "Das ganze Elend des Menschen kommt daher, dass er nicht ruhig in seinem Zimmer bleiben kann." Wenn Führungskräfte auf die Frage, was ihr größter Fehler sei, antworteten, ihre Ungeduld, dann geben sie für Bordt ein schlechtes Beispiel. Denn das Kokettieren mit der Ungeduld, die Eitelkeit auf die eigene Leistungswelt, die so von der Ungeduld motiviert sei, führe nicht nur die scheinbare Spitzenkraft in Wirtschaft und Gesellschaft von sich selbst weg, sondern ein solches Reden gebe auch ein schlechtes Beispiel. Im Gegensatz zu solcher falscher Ungeduld gelte es einzuhalten und bei sich selbst anzufangen, statt die eigene gesellschaftliche Bedeutung zu beschwören. Bordt mahnt: "Wenn wir viel zu tun haben, müssen wir uns selbst nicht spüren. Je größer der Stress bei einem Menschen ist, desto geringer ist seine Sensibilität für sich selbst. Kein Wunder also, dass manche Menschen den Stress geradezu suchen und süchtig nach ihm sind. Der Stress kommt ihnen ausgesprochen gelegen, weil er sie genügend von sich selbst ablenkt. Das, was aus einem verborgenen Teil unserer Innenwelt vielleicht in unser

Bewusstsein dringen möchte, wird erfolgreich abgeblockt." Das Seelenleben bleibt gleichsam zubetoniert, der Stress nimmt uns den Blick auf uns selbst, damit aber all die Möglichkeiten, die unser Selbst hat, von sich her mit anderen in Beziehung zu
sein, zu lieben, gut in der Welt und mit den anderen zu leben. Bordt schreibt: "In Stresssituationen verengt sich unser Blick auf die Welt und die Menschen. Wir können nicht abschalten. Wir können nicht loslassen. Wir haben keinen inneren Freiraum." Die Einsicht aber, aus einem solchen Leben auszusteigen, ist verbunden mit einem mutigen Schritt. Denn es heißt dann, die eigene Einsamkeit zuzugeben und zuzulassen, das Wissen, dass ich im Letzten mit mir alleine bin und eines Tages auch diese geschäftige Welt als Sterbender verlassen muss. Das Zulassen der Vorstellung, dass wir endlich sind und sterben müssen, ist für den Jesuiten Bordt die Voraussetzung, dass das eigene Leben mit wahrem Sinn und echten Beziehungen beginnen kann. Es ist aber nicht eine Todessehnsucht oder eine Todesangst, der Bordt das Wort führt, sondern ein Gewahrwerden unserer endlichen Lebensbedingungen auf dieser Welt, so dass sich unserem Leben von daher eine neue Tiefendimension erschließen kann. "Wenn wir uns unserer Sterblichkeit bewusst sind, bringt uns das die Beziehungen, die wir haben, und die Aufgaben, denen wir nachkommen, in ihrer Einmaligkeit näher."

Der Widerstand:
Die heutige Welt bietet viele Verführungen, das Wissen um das eigene Selbst zu unterschlagen. Sie legt nahe, dass alles gut ist oder eben gut sein soll. Es darf keine Krisen geben, Menschen sollen und müssen funktionieren. Bordt diagnostiziert, dass

Krisensymptome allzu schnell weggeleugnet werden. "Gibt es sie", so meint er, "dann gilt es, den Defekt zu finden und so schnell wie möglich zu beseitigen. Gegebenenfalls gar mithilfe von Medikamenten oder auch Drogen." Vor allem Beziehungen sind für ihn nicht wie Maschinen regulierbar, im Leben gerade auch von Menschen, die sich liebten, gebe es Phasen, "in denen das Verstehen und die Akzeptanz deutlich mühsamer sind und nur noch Vertrauen in den anderen als Antwort bleibt".

Der größte Widerstand aber, den es zu überwinden gilt, das ist für Bordt unser falsches Selbstbild. Unsere Vorstellungen von unserer Größe, unserer Großzügigkeit, unserer Freundlichkeit, würden im Leben immer wieder als falsche Bilder entlarvt;
wir empfinden Neid und Eifersucht, Gefühle also, von denen wir eigentlich nicht wollen, dass wir sie haben. Und der andere ist ja nur der äußere Anlass meiner Spannungen, nicht der Grund. Ganz wichtig also ist für Bordt die Unterscheidung zwischen dem, was in mir geschieht und damit meine Sache ist, und dem anderen, der diesen Prozess bloß ins Rollen bringt. Bordt meint: "Eigentlich sind es nicht die anderen Menschen, die es auszuhalten gilt, sondern die Spannungen, die die anderen Menschen in uns selbst erzeugen. Es sind meine Spannungen, die ich habe, selbst wenn die anderen der Grund meiner Spannungen sein mögen. Diese Spannungen sind und bleiben in mir." Mit diesen Spannungen umzugehen lernen, sie nicht wegzuleugnen, ist die entscheidende Lebensaufgabe: "Sich selbst auszuhalten bedeutet, die Aufmerksamkeit von den anderen Menschen und von spannungsreichen Situationen weg auf uns selbst und unser inneres Erleben zu lenken."

Die Lösung:
Unser Innenleben also ist es, das uns bedrängt, nicht die Außenwelt selbst. Der Königsweg, besser leben zu können, ist es für Bordt deshalb, mit sich selbst in eine bessere Beziehung zu kommen. Und diese bessere Beziehung besteht darin, einen

Abstand zu den Gefühlen zu bekommen, die einen zu überwältigen drohen. Diese Gefühle zwar einerseits nicht verdrängen zu wollen, auf der anderen Seite aber auch nicht von ihnen überwältigt zu werden, sondern in Beziehung zu ihnen zu treten und
damit zu sich selbst. Gefühle einerseits also nicht abspalten zu wollen, aber anderseits über das Verständnis der Gefühle doch in einen Abstand zu ihnen zu kommen, freier zu werden, nicht so sehr von negativen Gefühlen bestimmt zu werden. "Es geht dabei darum, sich des eigenen Innenlebens bewusst zu werden und die Spannungen und Emotionen verstehen zu lernen. Wenn wir etwas verstanden haben, dann kann es uns schon nicht mehr so stark bedrängen."

Um das leisten zu können, sind für Bordt die drei W-Fragen entscheidend: Worauf bezieht sich mein Gefühl? Das Zweite: Welches Gefühl ist es, das mich gerade beherrscht. Das Dritte: Warum habe ich dieses Gefühl? Entscheidend ist zudem, dass wir beim Spüren des Gefühls schon bemerken können, dass Gefühle gerade körperliche Wirkungen haben. Sie lösen "Körperspannungen und Körperreaktionen" aus, sind "Anspannungen oder Entspannungen". Unser Körper also ist für Bordt der entscheidende Schauplatz der Seele. Gefühle sind immer an unseren Körper gebunden, und es ist genau unser Körper, genau mein Körper, das "für mich", was beim Gefühl bedeutsam wird. Es geht nicht um eine objektive Wirklichkeit des Gefühls, sondern es ist das "ganz mein", was beim Gefühl bedeutsam wird. So wendet sich Bordt also als Priester und Meditationslehrer mit seinem kleinen Buch genau jedem einzelnen Menschen zu - und sagt: Hör auf Dich und Deinen Körper!

Zum Schluss:
Die entscheidende Lebenshaltung wird so die Selbstwahrnehmung. Im Alltag nicht unter die Räder der Geschäftigkeit, der Hektik, der Betriebsamkeit zu geraten, sondern immer auch bei sich selbst zu bleiben, sich selbst wahrzunehmen. Einen

wichtigen Hinweis gibt Bordt hier: Handele nicht im Affekt! Reagiere nicht einen Affekt sogleich ab, um Dich zu entlasten, sondern werde zum Zeugen Deiner selbst und handle aus dieser Zeugenschaft! Natürlich kann und darf man sich nicht alles
gefallen lassen; aber oft ist es gut, nicht sofort zu reagieren, wo man sich verletzt oder bedroht fühlt. Gerade damit wird man zum bewussten und starken Lebensakteur, der die Fäden seines Schicksals besser in Händen hält als einer, der immer sofort affektiv re-agiert.

Menschen haben Sehnsucht nach einer Erzählung ihres Lebens. Sie wollen ihre Lebensgeschichte verstehen und erzählen können. Ein Schicksal haben, ihr Schicksal haben. In dieser Erzählung, die genau ihre Erzählung ihres Lebens ist, liegt ein
wichtiger Sinn des Lebens. Sie mag nicht immer ganz richtig sein, es ist auch nicht alles ganz zu verstehen, und diese eigene Lebensdeutung ist auch nie abgeschlossen. Aber dennoch weiß der Jesuit Bordt: "Ob wir unsere eigene Identität gefunden haben, zeigt sich im Wesentlichen daran, ob wir eine kohärente Geschichte unseres Lebens erzählen können. Wir verstehen, warum wir so sind, wie wir sind, wenn wir eine Erzählung unseres Lebens geben können, die dieses als Ganzes deutet." Um diese Deutung aber leisten zu können, ist der kleine, aber tiefsinnige Ratgeber Michael Bordts ein liebenswürdiger Helfer.

Michael Bordt: Die Kunst sich selbst auszuhalten. Ein Weg zur inneren Freiheit. Verlag Zabert Sandmann, München 2013. 88 Seiten, 8,95 Euro.

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