Containern

Lukas rettet Lebensmittel aus der Tonne


Die heutige Ausbeute: unter anderem eine Paprika.

Die heutige Ausbeute: unter anderem eine Paprika.

Von Redaktion Freistunde

Lukas geht containern. Er sucht in Tonnen nach
noch verwertbaren Lebensmitteln. Dass er sich damit strafbar macht, interessiert den 22-Jährigen nicht.
Er ist Überzeugungstäter.

Von Simone Ketterl

Ein kurzer Blick nach links, nach rechts. Dann greift Lukas den grauen Gitterzaun und zieht sich lautlos nach oben. Er steigt über eine rund zweieinhalb Meter hohe Absperrung aus Metall, landet Sekunden später auf der anderen Seite. Ein Schritt zur Tonne, schon hält er seine Beute in den Händen: eine Karotte, eine Paprika, ein paar Tomaten. Normalerweise würde er die Lebensmittel jetzt mitnehmen, heute legt er sie zurück. Er will nur zeigen, wie Containern geht.

Es ist Mittagszeit, ein schwüler Sommertag, hinter einem Supermarkt irgendwo in Niederbayern. Auf dem nahegelegenen Parkplatz verstauen zwei Frauen ihre Einkäufe in einen blauen Fiat, ein Mann mit Baseballkappe telefoniert und raucht. Keiner von ihnen scheint Lukas, der eigentlich anders heißt, bemerkt zu haben.

Drei Kilo Bananen - das war der bisher größte Fund, den Lukas beim Containern gemacht hat. Vor zwei bis drei Monaten hat er damit angefangen. Foto: Simone Ketterl

Drei Kilo Bananen - das war der bisher größte Fund, den Lukas beim Containern gemacht hat. Vor zwei bis drei Monaten hat er damit angefangen. Foto: Simone Ketterl

"Am Anfang musste ich mich überwinden und fand's eklig"

Wie er zum Müllretter wurde, erzählt der Staatswissenschaften-Student bei einem schwarzen Kaffee in einer kleinen Bäckerei unweit des Bahnhofs. "Vor zwei bis drei Monaten habe ich damit angefangen. Ich bin seit dem vergangenen Wintersemester politisch sehr aktiv: bei der Grünen Jugend, bei ‚Fridays for Future'. Da lernt man Leute kennen, die sowas machen", sagt Lukas. Er trinkt einen Schluck aus der Tasse und lächelt.

Eine Gruppe von Bekannten habe ihn schließlich mit zum Containern genommen. "Klar, am Anfang musste ich mich überwinden und fand's eklig, im Abfall zu wühlen. Ich hab' aber bald gemerkt, wie viel gutes Obst und Gemüse von den Supermärkten aussortiert wird." Einmal habe er drei Kilo Bananen herausgefischt, perfekt gereift. "Das ist doch pervers, wenn du dir überlegst, die wurden erst mit wahnsinnigem Aufwand und CO2-Ausstoß aus Südamerika eingeflogen und dann einfach weggeworfen, wegen einer winzigen braunen Stelle."

Wer sich gegen die Verschwendung einsetzt, schützt das Klima

Tatsächlich landet in Deutschland jedes achte Lebensmittel im Müll. Nach Berechnungen der Universität Stuttgart kommen so jährlich fast 13 Millionen Tonnen zusammen. Täglich werden allein in München 168 Tonnen Nahrungsmittel entsorgt - genießbare wohlgemerkt. Das entspricht einer Menge von 131 Gramm pro Haushalt. Laut einem Gutachten des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft ließen sich durch eine Halbierung der Lebensmittelabfälle sechs Millionen Tonnen CO2 einsparen. Wer sich gegen Lebensmittelverschwendung einsetzt, betreibt also aktiven Ressourcen- und Klimaschutz.

Genau darum geht es Lukas. Umweltbewusst sei er immer gewesen. Besonders geprägt habe ihn aber ein Freiwilliges Soziales Jahr an einer Schule in einem Township von Kapstadt, Südafrika. Als er dort 2016 unterrichtet hat, gab es in der Region die schlimmste Dürre seit mehr als hundert Jahren.

"Wir sahen damals einen See, der komplett ausgetrocknet war", erinnert sich Lukas. Die Erde sei aufgesprungen gewesen, rissig. Wie eine Kraterlandschaft. Apokalyptisch. "Ich fand es krass, wie deutlich man die Folgen der Erderwärmung erkennen kann und wie unterschiedlich sie sich auf Menschen auswirken. Wenn die Wasserhähne im Township längst abgedreht sind, hocken die Reichen ein paar Kilometer weiter immer noch in ihren Swimmingpools."

Die Supermärkte spenden Tausende Tonnen an die Tafeln

Für ihn sei das schwer zu ertragen. Seither wolle er alles dafür tun, nichts zu verschwenden. Containern gehöre mittlerweile dazu. Dass Supermärkte gegen ihn und seinesgleichen vorgehen, kann Lukas nicht wirklich nachvollziehen: "Ich finde das lächerlich, schließlich klauen wir ja nichts."

Fragt man bei den führenden Supermarktketten Edeka, Lidl und Rewe nach, erhält man ähnliche Antworten. Alle betonen, dass sie Ressourcen möglichst nachhaltig nutzen möchten - schon allein aus Kostengründen. Zudem verweisen sie auf die rund 260 000 Tonnen, die der deutsche Lebensmitteleinzelhandel jährlich an 900 lokale Tafel-Initiativen spendet.

Zum Vergleich: In Frankreich ist die Zahl geretteter Lebensmittel durch ein Anti-Wegwerfgesetz auf 46 200 Tonnen gestiegen - das liegt nach wie vor deutlich unter dem deutschen Wert.

Rewe-Pressesprecher Thomas Bonrath betont, dass die Mitarbeiter täglich die Mindesthaltbarkeitsdaten kontrollierten. Produkte, die diese bald überschritten, würden dann preisreduziert angeboten. Er sehe keine nennenswerten Probleme mit Mülltauchern: "Die Justiz verfolgt selten das Containern allein, sondern im Zusammenhang mit Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung oder ähnlichem."

Diese Einschätzung bestätigt Johann Kohlschmidt. Der Landshuter Strafrechtler hatte in den vergangenen zehn Jahren keinen einzigen Fall dieser Art.

Rechtliche Konsequenzen? "Öko-Thug-Life eben"

Juristisch betrachtet kann es aber schwerwiegende Folgen haben: "Das Worst-Case-Szenario geht so: Drei junge Leute öffnen mit einem Vierkantschlüssel ein abgesperrtes Abfallhäuschen. Um verdorbene Stellen an Obst und Gemüse gleich zu entfernen, haben sie ein Taschenmesser dabei. Das ist schwerer Bandendiebstahl und wird mit einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten bis zu zehn Jahren geahndet", erklärt der Anwalt.

Dass Containern rechtliche Konsequenzen haben kann, beeindruckt Lukas wenig. "Naja, so ist das eben: Öko-Thug-Life", meint er grinsend.

Er leert seine Tasse, schnallt seinen Backpack-Rucksack um und geht zum Zug. Familienbesuch in der Heimat. Zum Abschied übergibt er eine Papiertüte. "Ein veganer Zimtmuffin, selbst gebacken", erklärt er. "Ausnahmsweise ohne Zutaten aus der Tonne."