Experteninterview

„Cybermobbing ist feige“


Patrizia Himpsl ist Beratungslehrerin am Landshuter Hans-Carossa-Gymnasium.

Patrizia Himpsl ist Beratungslehrerin am Landshuter Hans-Carossa-Gymnasium.

Mobbing ist ein ernstes Problem, das es an jeder Schule gibt. An vielen Schulen gibt es daher Projekte zur Prävention sowie Beratungslehrer und Schulpsychologen, um den Opfern zu helfen - oft gemeinsam mit der Klasse und den Eltern. Patrizia Himpsl ist Beratungslehrkraft am Landshuter Hans-Carossa-Gymnasium und eine der Koordinatorinnen für das Projekt "Lebensraum Schule - ohne Mobbing" des Schulamts Niederbayern. Mit der Freistunde hat sie über Gründe für das Mobbing, Opferklischees und Lösungswege gesprochen.

Wer wird gemobbt, wer mobbt? Gibt es ein Schema?

Patrizia Himpsl
: Nein, es kann jeden treffen und jeder kann zum Täter werden. Das typische Opfer, das anders gekleidet ist oder sich nicht wehrt, gibt es nicht. Das haben Studien gezeigt. Es werden auch Klassensprecher gemobbt oder Schüler, die sozial anerkannt sind. Merkmale wie Ängstlichkeit, Scheu, Minderwertigkeitsgefühle - das sind Opfer-Wahrnehmungen. So kann das Opfer auf Dauer durch Mobbing werden, obwohl es vorher "normal" und selbstbewusst war. Oft hat der Täter selbst ein Problem. Er muss sich zum Beispiel profilieren, weil er zu Hause nicht anerkannt wird oder schlechte Noten kompensieren will.

Wen es trifft, ist also Zufall?

Richtig. Und wenn ein Opfer weg ist, zum Beispiel, weil es die Klasse oder sogar die Schule wechselt, ist der nächste dran - wenn die Tätergruppe nicht gebremst wird, wenn die Schule nicht Einhalt gebietet.

Wenn es nicht daran liegt, dass die Täter das Opfer nicht mögen, sondern einfach irgendwer gemobbt wird - was ist dann der Auslöser?

Mobbing entsteht oft aus einer harmlosen Situation, schleichend. Es kann zum Beispiel sein, dass einer einmal beim Ausfragen einen Kommentar abgegeben hat; vielleicht gar nicht böse gemeint. Oder an der Bushaltestelle ist einer schneller in den Bus gekommen.

Wann spricht man von Mobbing?

Von Mobbing spricht man, wenn über einen längeren Zeitraum jemandem absichtlich körperliche oder verbale Gewalt angetan wird, mit dem Ziel, ihm wehzutun. Mobbing gab es schon immer. Jetzt sind Eltern, Lehrer und Schüler durch Aufklärung und Präventionsmaßnahmen genauer informiert und sensibilisiert und treten eher mit diesem Problem zum Beispiel an Beratungsfachkräfte oder Lehrer heran. Aber der Eindruck ist, dass jetzt mehr und heftiger gemobbt wird. Jetzt ist es so einfach zu mobben. 80-90 Prozent der Fälle sind Cybermobbing. In Chats oder über SMS schreiben die Täter z. B. Gemeinheiten oder stellen kompromittierende Fotos oder Videos ein. Es hört auch nicht mehr auf. Früher gab es Mobbing vormittags in der Schule; aber nachmittags daheim nicht. Jetzt, wo Jugendliche dauernd über Internet oder Handy erreichbar sind, werden die Opfer Tag und Nacht bedrängt. Deshalb ist Mobbing intensiver und leichter geworden. Man erreicht gleich viel mehr Leute. Und diese Art von Mobbing ist feige, da oft anonym: Ob der Täter die Gemeinheiten dem Opfer direkt ins Gesicht sagen würde, ist fraglich.

Was kann man als Opfer tun?

Bei Cybermobbing muss man sich auf jeden Fall Hilfe holen, zum Beispiel über den Rechtsanwalt, indem man den Unterlassungsanspruch geltend macht: Wenn innerhalb einer Woche diese Aktionen nicht aufhören, werden rechtliche Schritte eingeleitet. Wenn man weiß, wer der Täter ist. Wenn man das nicht weiß, kann man seinen Account löschen und Chats schließen, damit man nicht mehr verletzt wird. Man kann etwa bei seinem Anbieter die Herkunft von SMS sowie den gesamten SMS- oder Chatverkehr anfordern. Bei einer aktuellen Bedrohung, - zum Beispiel "Wenn Du morgen in die Schule kommst, machen wir Dich fertig" oder Verleumdung, üblen Nachrede, Erpressung o. Ä - sollte man einen Screenshot machen und sofort zur Polizei gehen. Es ist wichtig, Beweise zu sammeln, um eventuell auch strafrechtlich vorgehen zu können.

Wenn man nicht zur Polizei gehen möchte: An wen sollte man sich sonst am besten wenden?

Der Hauptweg ist, Öffentlichkeit herzustellen. Mobbingopfer sollten sich jemandem anvertrauen, den Eltern, einem Freund oder einem Lehrer. Auch Mitschüler oder Lehrer sollten das Mobbing öffentlich machen, denn viele Opfer schaffen es selbst nicht. Wichtig ist, dass die Schulleitung davon erfährt und deutlich Position bezieht: Mobbing wird bei uns nicht geduldet. Dieses Signal muss an den Mobber gerichtet sein. Dann kann man mit dem Opfer, dem Täter und der Klasse arbeiten. Oft kommen die Täter aus der eigenen Klasse und häufig leidet nicht nur einer unter der Gruppe, sondern mehrere Schüler.

Wie sieht diese Arbeit aus?


Mit dem Opfer wird gesprochen und gefragt: Was löst das in dir aus? Was würdest du dir wünschen? Was würde für dich die Situation verbessern? Es geht nicht immer darum, dem Täter Schuld zuzuweisen. Es gibt zum Beispiel den "no blame approach", der nach Lösungsideen gemeinsam mit der Klasse Sucht und das Mobbing beenden will. Man muss auch den Tätern die Augen öffnen, was sie anrichten. Das Allerwichtigste ist aber die Klasse.

Wie meinen Sie das?

Oft ist die Konstellation zum Beispiel fünf gegen einen. Es gibt in der Klasse aber noch 25 andere, die nichts tun. Und damit stimmen sie dem Mobbing zu. Erst wenn sie sensibilisiert sind, dass ihr Nichtstun ein Mitmobben ist, kann sich etwas ändern. Wenn nur zwei, drei zum Opfer stehen, ist es auch für die anderen leicht aufzustehen. Dann sind die fünf Mobber klein im Vergleich, dann verkehren sich die Verhältnisse. Das kann man in dem "no blame approach" bewirken. Dafür braucht man aber mehrere Gespräche; auch mit den Eltern, z. B ein Elternabend.

Ist es für Opfer sinnvoll, die Schule zu wechseln?

Das Erstgespräch ist immer das Opfergespräch. Das Opfer bestimmt, was als Lösungsstrategie möglich und für das Opfer ein gangbarer Weg ist. Manche wollen auch nicht, dass der Fall in der Klasse bekannt wird. Manche Mobbingfälle dauern Jahre, da ist die Situation verfahren, auch wenn das Mobbing aufhört. Denkbar ist dann ein Klassen- oder eben auch ein Schulwechsel. Das sollte allerdings der letzte Ausweg sein: Man möchte den Mobbern nicht das Gefühl geben, gesiegt zu haben, weil sie das Opfer verdrängt haben. Doch wenn es nicht anders geht, muss man auch das Opfer schützen und es aus der so belastenden Situation nehmen und klarmachen, dass es nicht als Verlierer das Feld verlässt, sondern eine Chance auf einen Neuanfang mit positiver Perspektive angestrebt wird.