Ermittlungen laufen
Mutmaßlicher Täter von München in Untersuchungshaft

Daniel Löb/dpa
Ministerpräsident Markus Söder (CSU), Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) gedenken am Freitagvormittag der Opfer.


Farhad N., ein 24-jähriger Asylbewerber aus Afghanistan, ist am Donnerstag gegen 10.30 Uhr mit seinem Auto in einen Streik-Zug von Verdi gerast - dabei hat er laut Polizeiangaben 36 Menschen verletzt. Laut Angaben von Münchens Polizeivizepräsident Christian Huber sind zwei Opfer lebensbedrohlich verletzt, acht schwer- und zehn mittelschwer. Alle Verletzten waren Teilnehmer des von Verdi organisierten Demonstrationszugs. Nun sitzt Farhad N. in Untersuchungshaft. Das habe ein Ermittlungsrichter unter anderem wegen des dringenden Verdachts auf 39-fachen versuchten Mord angeordnet, teilte die Generalstaatsanwaltschaft München mit. Die Ermittler gingen von Heimtücke, niedrigen Beweggründen und gemeingefährlichen Mitteln aus.
Der 24-Jährige habe in einer Vernehmung auch eingeräumt, den Wagen absichtlich in das Ende des Verdi-Demonstrationszugs gesteuert zu haben.
Die Ermittler gehen von einem islamistischen Motiv des Autofahrers aus. Das sagte die Leitende Oberstaatsanwältin der Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus (ZET) der Generalstaatsanwaltschaft München, Gabriele Tilmann, bei einer Pressekonferenz. Es gebe aber bisher keine Hinweise darauf, dass der 24 Jahre alte Afghane in ein Netzwerk eingebunden gewesen sei.
Als Anhaltspunkte für eine islamistische Motivation nannte Tilmann unter anderem die Aussage von Polizisten, der Fahrer habe nach der Tat "Allahu Akbar" gerufen. Er habe in einer Vernehmung auch eingeräumt, den Wagen absichtlich in das Ende eines Verdi-Demonstrationszugs gesteuert zu haben. Die Aussagen deuteten auf eine religiöse Motivation hin, sagte Tilmann.
Zwar stünden die Ermittlungen noch am Anfang, betonte Tilmann. Sie traue sich aber, nach derzeitigem Stand von der Annahme eines islamistischen Hintergrunds zu sprechen.
Was über den Täter bekannt ist
In sozialen Medien zeigte er sich als Bodybuilder, der auch an Wettkämpfen teilnahm. Er teilte auch islamische religiöse Inhalte. Nach Angaben von Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hat der junge Afghane eine Schule besucht, eine Berufsausbildung gemacht und dann als Ladendetektiv für zwei Sicherheitsfirmen gearbeitet.
Der Mann arbeitete laut Generalstaatsanwaltschaft bis zuletzt im Sicherheitsgewerbe und wohnte in einer Mietwohnung. Am Vortag war die Wohnung im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses im Stadtteil Solln durchsucht worden. Das Auto, mit dem er die Menschen überfuhr, gehörte ihm. Nachbarn sagten, sie kannten ihn nicht. Vorbestraft war er nicht. In Bayern gab es nach Angaben der Behörden zwar ein Verfahren wegen Arbeitsamtsbetrugs, weil er sich nach dem Ende seiner Arbeitslosigkeit wohl nicht rechtzeitig wieder abgemeldet hatte. Das Verfahren wurde eingestellt gegen eine Geldauflage.

Hannes Magerstädt/AZ München
Polizisten sichern am Donnerstag das Fahrzeug, einen cremefarbenen Mini.
Der junge Afghane hatte nach Angaben Herrmanns einen gültigen Aufenthaltstitel und eine Arbeitserlaubnis. "Damit war der Aufenthalt des Täters bis zum heutigen Tage nach gegenwärtigem Erkenntnisstand absolut rechtmäßig", sagt Herrmann. Nach Angaben der Polizei verfügte er über eine sogenannte Fiktionsbescheinigung als Übergang zwischen zwei gültigen Aufenthaltsgenehmigungen.
Zugleich berichten die Ermittler, dass der Mann nach neuesten Erkenntnissen und entgegen erster Informationen vom Donnerstag nicht wegen Ladendiebstählen und Drogendelikten auffällig geworden war. Seine Tätigkeit als Ladendetektiv habe zu diesem Missverständnis geführt. Laut Polizei war er in entsprechenden Verfahren Zeuge gewesen und hatte selbst Anzeigen erstattet.
Nach Herrmanns Worten beantragte der Afghane Asyl. Sein Antrag wurde abgelehnt. Mit einer Klage dagegen scheiterte er vor Gericht. 2020 wurde sein Asylverfahren endgültig abgeschlossen, mit einem Ablehnungsbescheid und der Aufforderung zur Ausreise. Die Landeshauptstadt München habe dann aber im April 2021 einen Duldungsbescheid erlassen und im Oktober 2021 eine Aufenthaltserlaubnis, heißt es.
Das, was der Tatverdächtige nach seiner Festnahme sagte, "lässt auf eine religiöse Tatmotivation schließen", sagt Oberstaatsanwältin Gabriele Tilmann. Nach seiner Festnahme habe er "Allahu akbar" (Gott ist groß) gesagt und gebetet. Laut Innenminister Herrmann gibt es keinen Hinweis auf einen Zusammenhang mit der laufenden Münchner Sicherheitskonferenz hochrangiger internationaler Politiker. "Im Moment gehen wir in der Tat davon aus, dass die Zielgruppe hier, dass die Opfer aus den Reihen dieser Verdi-Demonstration eher zufällig waren", sagt er. "Aber auch dem muss natürlich nachgegangen werden."
Der Tatverdächtige sei "wohl bislang eher unauffällig" gewesen, sagt Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Aus Sicherheitskreisen heißt es, auch ein Blick auf das Umfeld des Tatverdächtigen habe bislang keine Kontakte zu islamistischen Kreisen ergeben. Er war religiös, betete, ging regelmäßig in eine Moschee, die laut Staatsanwaltschaft nicht für extremistische Prediger bekannt ist.
Zur Frage, ob der mutmaßliche Attentäter einen islamistischen Hintergrund haben könnte, soll ein Social-Media-Post des 24-Jährigen geprüft werden, sagte Bayerns Innenminister Joachim Hermann (CSU) am Freitagmorgen im Deutschlandfunk. "Es hat wohl vorgestern einen entsprechenden Post gegeben, den aber Experten noch näher beurteilen müssen." In dem Post komme der islamische Glaube zum Ausdruck. Aber es sei unklar, inwieweit der Post zu einem Radikalismus-Verdacht Anlass gäbe. "Aus den anderen Ermittlungsergebnissen erkennen wir bislang keine entsprechenden islamistischen Hintergründe, aber die Polizei steht ja erst am Anfang der Ermittlungen", berichtete Herrmann.
Ebenso ist laut Herrmann unklar, ob der Mann die Kundgebung eher zufällig ausgewählt hat. "Ist er gezielt auf diese Verdi-Demonstration los oder wollte er nur in irgendeine Menschenmenge, möglichst viele Menschen zu verletzen oder zu töten. All das muss geklärt werden", sagte Hermann. Genau wie die Frage, ob es Zufall war, die Tat am Tag vor Beginn der Münchner Sicherheitskonferenz zu begehen. "Bisher haben wir zu keinem dieser Punkte konkrete Ergebnisse", sagte Herrmann.
Über den Täter waren zunächst Fehlinformationen in Umlauf gewesen. Die Polizei hat nun erklärt, wie es dazu kommen konnte. In der "Chaosphase" würden viele Informationen "virulent" herumgehen, sagte der Vizepräsident des Polizeipräsidiums München, Christian Huber. "Es dauert eine gewisse Zeit, bis man ein Bild bekommt." Dafür müsse man zunächst Daten zusammenführen.
Ermittler haben noch am Donnerstag die Wohnung des Tatverdächtigen durchsucht. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur wurde eine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus im Münchner Stadtteil Solln durchsucht, in der der 24 Jahre alte Afghane gewohnt haben soll. Die Polizei und die Generalstaatsanwaltschaft äußerten sich zunächst auf Anfrage nicht.
Nach Polizeiangaben spielte sich der mutmaßliche Anschlag am Donnerstag so ab: Gegen 10.30 Uhr fuhr der Mann zunächst hinter der Demo her, überholte einen Polizeiwagen, der die Gruppe absichern sollte, beschleunigte - und fuhr in das Ende des Demozugs, zu dem mehrere Menschen auch ihre kleinen Kinder mitgebracht hatten. Die Polizei schoss in Richtung des Verdächtigen und nahm ihn fest.
Die Demonstration hatte Verdi organisiert - im Rahmen der Warnstreiks im öffentlichen Dienst. Zum Warnstreik waren städtische Beschäftigte, wie Mitarbeiter von Kindertageseinrichtungen, aufgerufen. Laut Polizei waren 1.500 Menschen unterwegs zur Schlusskundgebung am Königsplatz, als das Auto in die Menge raste. Mitglieder aus Niederbayern sollen nicht an der Demonstration teilgenommen haben, sagt Monika Linsmeier von Verdi Niederbayern. Die Gewerkschaft wollte ihre für heute geplanten Veranstaltungen in Bayern nicht absagen.
Dutzende Polizisten und Feuerwehrleute hatten zuvor am Unfallort den Platz gesichert, Rettungskräfte kümmerten sich um Demo-Teilnehmer und transportierten Verletzte ab. Vormittags war von einem Todesfall unter den Verletzten berichtet worden. Dabei scheint es sich nach aktuellen Informationen um eine Fehlinformation gehandelt zu haben.
Am Donnerstagabend waren am Tatort Blumen abgelegt und Kerzen entzündet worden. Das Tatfahrzeug wurde mit einem Abschleppwagen abtransportiert. Bis in die Nacht hinein waren Kräfte der Spurensicherung und des Landeskriminalamts im Einsatz.
Der Vorfall erinnert an einen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Magdeburg am 20. Dezember des vergangenen Jahres. Damals hatte ein Mann bei einer Amokfahrt sechs Menschen getötet und fast 300 verletzt.
Ministerpräsident Markus Söder zog einen Vergleich zum Anschlag von Magdeburg und sprach davon, dass man besonnen reagieren werde. "Aber ich sage Ihnen auch, dass unsere Entschlossenheit wächst", sagte Söder. "Es ist nicht der erste Fall, und wer weiß, was noch passiert."
Scholz verspricht schnellere Abschiebungen
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) äußerte sich bestürzt über die Tat und versprach, den Mann schnell in sein Heimatland abschieben zu wollen. "Wer hier keine deutsche Staatsangehörigkeit hat und Straftaten dieser Art begeht, der muss auch damit rechnen, dass wir ihn aus diesem Land wieder zurückbringen, wegbringen und ihn abschieben", sagte Scholz am Donnerstagabend in der ZDF-Sendung "Klartext".
Das gelte ausdrücklich auch für den Tatverdächtigen, betonte Scholz. "Denn wir werden ihn sicherlich verurteilt sehen von den Gerichten und noch bevor er das Gefängnis verlässt, wird er dann auch in sein Heimatland zurückgeführt werden", versicherte der Kanzler. Dieses Vorgehen sei aktuell zwar "nicht einfach", aber es werde dann umgesetzt, sagte Scholz. Deutschland organisiere auch jetzt schon Abschiebeflüge nach Afghanistan.
Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erklärte, dass die Abschiebungen nach Afghanistan weitergehen würden. Die Tat von München müsse noch weiter aufgeklärt werden, aber es stehe jetzt schon fest: "Es war erneut ein junger Afghane, wir müssen mit aller Härte des Gesetzes reagieren." Es könne nicht sein, dass Menschen nach Deutschland kämen und hier Straftaten begingen, sagte Faeser.
Wie geht es den Verletzten?
Ein zweijähriges Mädchen befinde sich in kritischem Zustand auf der Intensivstation, sagte ein Sprecher des LMU Klinikums. Auch am TUM Klinikum rechts der Isar befand sich nach Angaben einer Sprecherin eine Person weiter in äußerst kritischem Zustand.
Am LMU Klinikum wurden an den beiden Standtorten Großhadern und Innenstadt insgesamt 14 Verletzte behandelt. Einige Patienten waren schwer verletzt, vier mussten den Angaben zufolge umgehend operiert werden. Sechs Personen waren in Notfallzentren der München Klinik an den Standorten Schwabing und Bogenhausen gebracht worden. Die Verletzungen der Betroffenen reichten von leicht bis schwer, sagte ein Sprecher. Drei weitere Verletzte wurden nach Auskunft einer Sprecherin am Klinikum Dritter Orden behandelt, vier am Rotkreuzklinikum München. Diese vier Patienten wurden inzwischen entlassen, wie eine Sprecherin mitteilte. Am TUM Klinikum rechts der Isar waren zunächst fünf Menschen behandelt worden, von denen vier zwischenzeitlich entlassen wurden. Über weitere Entlassungen war zunächst nichts bekannt.
Die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (KVB) hat eine eigene spezielle Hotline für Menschen aus der München und der Region eingerichtet, die wegen des Anschlags psychiatrischer oder psychotherapeutischer Unterstützung brauchen.
Die Rufnummer der Hotline lautet 092188099-55040 und ist voraussichtlich bis zum 28. Februar täglich jeweils zwischen 8 und 22 Uhr erreichbar.
Die KVB hat zudem alle Praxen aus München und Oberbayern, die sich auf die Behandlung psychischer Erkrankungen spezialisiert haben, angeschrieben, um kurzfristig freie Behandlungskapazitäten zur Verfügung zu stellen.
Zeugen werden gebeten, ihre Videos oder Bilder der Polizei zu übermitteln.