Kommentar

Pulverfass Türkei


Der Putschversuch in der Türkei kostete mindestens 265 Menschen das Leben. Doch er hat auch gezeigt: Das Volk steht mehrheitlich zu Erdogan.

Der Putschversuch in der Türkei kostete mindestens 265 Menschen das Leben. Doch er hat auch gezeigt: Das Volk steht mehrheitlich zu Erdogan.

Von Dr. Gerald Schneider

Die Türkei ist in Aufruhr. Doch eines hat der Putschversuch auch gezeigt: Das Volk steht mehrheitlich zu ihrer politischen Führung. Ein Kommentar.

In der Nacht auf Samstag wurde die Welt aufgeschreckt. Kampfflugzeuge über Istanbul, Panzer in den Straßen, gesperrte Brücken. Dann hieß es sogar, das Militär habe die Macht übernommen. Ein Putschversuch hatte also die Türkei erschüttert. Tags darauf war der Spuk wieder vorbei. Soldaten ergaben sich, Bürger schwenkten die türkische Flagge und Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan drohte den Putschisten harte Strafen an. Die Hintergründe sind noch unklar. Offenbar hatte ein Teil der Streitkräfte den Aufstand gewagt. Ja, selbst die Theorie machte die Runde, das alles könnte nur inszeniert gewesen sei, um Erdogans Macht zu festigen und das aufbegehrende Militär in die Schranken zu weisen. Anzeichen dafür gibt es; Beweise fehlen. Doch zeigen nicht nur die recht zögerlichen internationalen Reaktionen, die zu Demokratie und Wahrung der rechtsstaatlichen Ordnung aufriefen: In der Türkei gärt es.

Erdogan gilt im Westen häufig als reiner Despot, als einer, der nur testosterongesteuert am Ausbau seiner Macht arbeitet und von demokratischen Werten nichts wissen will. Vieles davon stimmt auch. Sein hartes Vorgehen gegen Kurden, Oppositionelle und die freie Presse belegt dies. Doch dem Phänomen Erdogan sollte man sich mit einem differenzierteren Blick nähern. Der Staatspräsident hat in der Türkei auch Reformen angeschoben, die korrupten kemalistischen Strukturen entmachtet, der Wirtschaft zur Blüte verholfen und einen Modernisierungskurs eingeschlagen. Der Preis: das Ende der strengen Trennung zwischen Staat und Religion, die Staatsgründer Kemal Atatürk als Grundlage der modernen Türkei verfügt hatte. Muslimbruder Erdogan hat seither wieder auf religiöse Traditionen des Landes Rückbezug genommen und die Macht des Militärs - Wahrer der kemalistischen Grundordnung - arg beschnitten.

Lesen Sie hier: Türkische Führung reagiert mit harter Hand auf Putschversuch

Der versuchte Putsch trifft die Türkei zudem in einer sensiblen Phase. Erdogan war gerade dabei, die Trümmer seiner gescheiterten Außenpolitik zusammenzukehren. Die zerrütteten - obwohl traditionell guten - Beziehungen zu Israel und Russland hatte er gerade eben wieder auf Entspannungskurs gebracht. Gleichzeitig präsentierte er sich als Staatsmann, der dem Land Selbstbewusstsein gibt, indem er sich im Flüchtlingskonflikt von den Europäern nicht auf der Nase herumtanzen ließ und die Fernsehbilder lieferte, die ihm und seinem Volk deutlich machen sollten: Wir sind wieder wer - nämlich als ihm beziehungsweise seinem inzwischen abgesetzten Regierungschef Ahmed Davutoglu die versammelte EU in Brüssel den roten Teppich ausrollte.

Die Türkei wurde also von jener Gemeinschaft hofiert, die der Türkei seit den 1960er-Jahren die Karotte eines Beitritts vor die Nase hält, ohne ehrlich zu sagen, dass sie das in Wahrheit - und aus guten Gründen - gar nicht will. Hier wäre sicher auch vom Westen mehr Ehrlichkeit vonnöten.

Doch wer einen solchen Kurs wie Erdogan fährt, legt sich auch im eigenen Land mit zahlreichen Mitspielern an, so auch dem Militär. Zuletzt hatte Erdogan die Streitkräfte etwas gestärkt - braucht er die Generäle doch im Kampf gegen die Kurden und auch dazu, den in den Nachbarländern Irak und Syrien wütenden Islamischen Staat möglichst aus der Türkei fernzuhalten. Doch das so stolze Militär, das selbst zum korrupten, selbstzufriedenen Kemalismus der Vor-Erdogan-Türkei beigetragen und von dessen kaputten Strukturen profitiert hatte, witterte Verrat. Galt doch bisher das Grundprinzip: Religion ist Religion und Staat ist Staat.

All dies hatte Erdogan zusammen mit seiner AKP über den Haufen geworfen. Die von Davotoglu (als langjähriger Außenminister) entworfene Außenpolitik, mit einer starken Türkei als Regionalmacht, die in Frieden und im gedeihlichen Miteinander mit seinen Nachbarn lebt, war spätestens dann gescheitert, als das Land wieder verstärkt gegen einen kurdischen Staat aktiv wurde und in Syrien mehr die kurdischen Einheiten als den IS bekämpfte. Das gefiel auch dem Militär nicht, dessen Beziehung zur AKP Erdogans zuletzt wieder als relativ spannungsfrei galt. Das einst so stolze und einflussreiche Militär musste sich jedoch als zum Handlanger degradierten Erfüllungsgehilfen einer Politik sehen, die für vieles steht, was der Ideologie des Kemalismus entgegentritt.

War der Putsch nun inszeniert, um einen Grund zu haben, das Militär wieder in die Schranken zu weisen und zu demonstrieren, dass nur Erdogan Stabilität garantieren kann? Möglich ist es. Allerdings hat er in der Nacht des Putsches zunächst keine allzu gute Figur gemacht. Politisch nutzen wird er die Ereignisse allerdings. Und es hat schon begonnen mit der "Reinigung" des Militärs und der Entlassung Tausender Richter. Das riecht doch nach vorbereiteter Aktion. Aber würde nicht jede Regierung nach einem überstandenen Putsch erst mal für klare Verhältnisse sorgen? Doch wenn er nun den Bogen überspannt, riskiert Erdogan viel.

Die Türkei ist in Aufruhr. Doch eines hat der Putschversuch auch gezeigt: Das Volk steht mehrheitlich zu ihrer politischen Führung. Bürger haben sich den Panzern der Putschisten in den Weg gestellt und den offenbar doch recht dilettantischen Staatsstreichversuch scheitern lassen. Erdogan sollte sich indes seiner Sache nicht so sicher sein und mit seiner Machtgier vorsichtiger umgehen. Europa wiederum sollte sich endlich seiner Haltung gegenüber Ankara klar werden. Niemand muss Präsident Erdogan mögen. Sich dann dennoch von ihm abhängig zu machen, wie in der Flüchtlingspolitik, anstatt der Interessenspolitik Erdogans eine klare Position entgegenzustellen, reicht nicht, um die Türkei in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu führen.