Kommentar

Bittere Pillen aus der Türkei


Recep Tayyip Erdogan macht keinen Hehl daraus, dass Begriffe wie Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit für ihn "absolut keinen Wert mehr" hätten.

Recep Tayyip Erdogan macht keinen Hehl daraus, dass Begriffe wie Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit für ihn "absolut keinen Wert mehr" hätten.

So sieht Realpolitik aus: Die 28 Staats- und Regierungschefs der EU verhandeln wochenlang untereinander und mit der Türkei - und am Ende kommt ein Deal heraus, mit dem keiner so richtig zufrieden ist, der sich hart am Rand von Gesetz und Moral bewegt und von dem keiner weiß, ob er überhaupt funktioniert. Aber keiner der Kritiker hat eine echte Alternative parat. So schlecht kann die Einigung also gar nicht sein.

Der Plan sieht so aus: Griechenland erkennt die Türkei als sicheren Drittstaat an. Das gibt den Griechen das Recht, ankommende Flüchtlinge aus ihren Schlepperbooten zu holen und in die Türkei zurückzubringen. Die Türken erklären sich bereit, diese illegalen Zuwanderer auch wieder zurückzunehmen, und zwar schon ab diesem Sonntag. Im Gegenzug wird für jeden zurückgenommenen Bootsflüchtling ein Syrer legal von der Türkei in die EU gebracht.

Das klingt erst einmal nach einem zynischen Flüchtlings-Verschiebebahnhof, und in gewisser Weise ist es das ja auch. Aber hinter dem Plan steckt ein Kalkül: Er legt den Schleppern das Handwerk. Denn wer davon ausgehen muss, ohnehin gleich wieder zurückgebracht zu werden, wird nicht seine ganze Habe für einen Platz in einem der überfüllten Boote hergeben. Dafür ist es höchste Zeit. Allein in diesem noch nicht allzu langen Jahr sind schon 350 Menschen in der Ägäis gestorben.

Rechtlich fragwürdig

Zugegeben: Rechtlich ist das Ganze nicht völlig sauber. Nur unter juristischen Verrenkungen kann Griechenland, das im Übrigen selber Flüchtlinge nicht so behandelt, wie es sollte, die Türkei als sicheren Drittstaat einstufen. Denn in der Türkei gilt für Syrer nicht einmal die Genfer Flüchtlingskonvention. Deshalb verlangen die Europäer von Ankara auch, Flüchtlinge rechtlich besserzustellen.

Wenn das gelingen sollte, wäre schon viel gewonnen - und zwar nicht nur für die mehr als zweieinhalb Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei, sondern auch für die EU selbst. Schließlich bekommen derzeit die meisten von ihnen von Ankara weder Papiere noch staatliche Unterstützung. Vor allem deshalb suchen viele das Heil in der Weiterreise nach Europa. Wenn sie nun in der Türkei bessere Chancen bekommen, könnte das den Migrationsdruck in die EU abmildern.

Türkei lässt sich Entgegenkommen teuer bezahlen


Wie in der Realpolitik nicht anders zu erwarten, lässt sich die Türkei ihr Entgegenkommen teuer bezahlen. Zuallererst finanziell: Zu den bereits zugesagten drei Milliarden Euro Unterstützung von der EU für Ankara sollen weitere drei Milliarden dazukommen.

Das ist viel Geld, aber durchaus gerechtfertigt. Denn diese sechs Milliarden Euro decken nur einen Bruchteil jener Ausgaben, die die Türkei für die vielen Flüchtlinge im Land leisten muss. Allein für die Versorgung in den Lagern habe man bereits mehr als neun Milliarden ausgegeben, heißt es von der türkischen Regierung. Und dort lebt nur ein Zehntel der Flüchtlinge.

Türkei leistet in Flüchtlingskrise am meisten

Die Türkei, das muss man auch in Europa anerkennen, leistet in der Flüchtlingskrise mehr als jedes andere Land der Welt. Dass sie auf Lastenteilung drängt, ist legitim.

Die EU musste aber noch sehr viel mehr bitterere Pillen schlucken. Am bittersten ist wohl, dass Türken bald ohne Visum in den Schengen-Raum einreisen dürfen. Um das zu erreichen, muss Ankara zwar eine lange Liste von 72 Bedingungen erfüllen - dabei handelt es sich im Wesentlichen aber um technische Fragen.

So verständlich die Forderung nach Visafreiheit aus türkischer Sicht auch ist: Für Europa bringt sie erhebliche Risiken mit sich. Bislang muss jeder Türke, der in den Schengen-Raum will, persönlich ein Visum beantragen und dabei unter anderem glaubhaft machen, dass er vorhat, nach spätestens 90 Tagen wieder in die Türkei zurückzukehren. Künftig dürfen Türken zwar auch nicht länger bleiben - sie kommen aber sehr viel einfacher nach Europa und könnten hier dann etwa untertauchen und sich als Schwarzarbeiter verdingen.

Türkei kann unter Erdogan nie EU-Mitglied werden


Leichter zugänglich wäre Europa dann auch für Flüchtlinge aus den umkämpften Kurdengebieten in der Türkei selbst. Sie könnten sich in das nächste Flugzeug setzen und nach der Landung in der EU einen Asylantrag stellen - mit sehr guten Aussichten. Die Einigung könnte der EU über die Hintertür also wieder ein neues Flüchtlingsproblem bescheren.

Und nicht zuletzt dient die Visumspflicht auch der Sicherheit in Europa. Das Verfahren kann mithelfen, Terroristen aus der EU fernzuhalten. Das wird in Zukunft schwieriger. Dass die Türkei ein massives Terrorismusproblem hat, ist nicht erst seit den jüngsten blutigen Anschlägen bekannt.

Dagegen wird die Zusage an die Türkei, den Beitrittsprozess wieder in Gang zu bringen, wenig konkrete Folgen haben. Immerhin, man hat mit "Finanz- und Haushaltsbestimmungen" wieder mal ein Verhandlungskapitel gefunden, das man öffnen kann, ohne die Partner in Ankara völlig blamieren zu müssen.

So ein Land hat in der EU nichts verloren

Aber es müsste eigentlich auch in der türkischen Hauptstadt längst jedem klar sein, dass eine Türkei unter einem autokratischen Herrscher wie Recep Tayyip Erdogan nie und nimmer EU-Mitglied werden kann. Denn für eine Vollmitgliedschaft sind strenge rechtsstaatliche und demokratische Anforderungen zu erfüllen. Davon ist die Türkei nicht nur weit entfernt, davon entfernt sie sich seit Jahren immer weiter. Erdogan selbst macht keinen Hehl daraus, dass Begriffe wie Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit für ihn "absolut keinen Wert mehr" hätten.

Und die Fakten sprechen ohnehin für sich: Da werden kritische Zeitungen unter Zwangsverwaltung gestellt, Redaktionen von der Polizei gestürmt und missliebige Journalisten verhaftet. So ein Land hat in der EU nichts verloren.

Die Türkei, so viel ist klar, ist ein sehr fragwürdiger Partner. Aber wir brauchen sie, um die Flüchtlingsströme in den Griff zu bekommen. Also müssen wir auch mit ihr reden. Wer zu Recht den Dialog mit Russlands Präsident Wladimir Putin sucht, um Probleme gemeinsam zu lösen, kann auch nicht prinzipiell etwas dagegen haben, mit Recep Tayyip Erdogan zu reden.

Ansatz ist nicht neu

Das Traurige an diesen Verhandlungen ist vor allem, dass sie erst so spät gekommen sind. In diesen Tagen beginnt der Frühling - und mit den ersten Sonnenstrahlen werden auch die Schlepper wieder ihre Todesboote aufs Meer schicken. Es war also höchste Zeit, etwas zu tun.

Zudem ist der Ansatz ja nicht neu: Schon am 16. Dezember 2013 hatte Ankara versprochen, illegale Migranten zurückzunehmen, wenn Türken im Gegenzug ohne Visum in die EU einreisen dürfen. Nur der Preis für diese Einigung ist seither gestiegen - und das nicht nur finanziell: Jetzt soll die Visafreiheit auch schon Ende Juni kommen.

Ist das also nun die viel beschworene europäische Lösung der Flüchtlingskrise? Zweifel sind angebracht. Aber Realpolitik besteht eben auch im nüchternen Abwägen von Vor- und Nachteilen. Und eine bessere Lösung ist nicht in Sicht.