Kommentar
Flüchtlingskrise: Die erstickte Debatte
7. Februar 2016, 9:28 Uhr aktualisiert am 7. Februar 2016, 9:28 Uhr
Für den holländischen Soziologen Paul Scheffer (siehe Info unten) ist die Debatte in Deutschland um die Flüchtlingszuwanderung eine "erstickte Debatte".
Sie werde dazu beitragen, dass die politische Mitte erodiere und sich radikalisiere, sagt er im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Das habe er vor zwanzig Jahren in seiner Heimat erlebt und das werde sich in Deutschland wiederholen, wenn die "Kultur des Schweigens" beibehalten werde. Namentlich nennt Scheffer in diesem Zusammenhang die Bundeskanzlerin.
Jede Zuwanderung, wie und wo auch immer, ziehe Spannungen nach sich, sagt Scheffer weiter. Man müsse aber über die vielen Konflikte, die auszutragen sind, ob kulturelle, soziale, religiöse oder welche auch immer, radikal offen reden. Gesellschaften seien umso friedlicher, je transparenter über diese Probleme gesprochen werde. Aber der Bundeskanzlerin mit offener Kritik zu kommen, sei derzeit fast nicht möglich, sagt Scheffer.
Szenenwechsel. Es ist ehrenwert, wenn vier CSU-Bundestagsabgeordnete per Leserbrief die Kanzlerin verteidigen. Frau Merkel schweige nicht, sondern sie rede und rede hier und dort und stelle sich rege der Debatte um die Flüchtlingszuwanderung, zählen die vier ausführlich auf. Man will an dieser Stelle nicht zynisch sein, aber erkennen Politiker den Unterschied zwischen reden und etwas sagen schon noch? Nicht umsonst gilt die Redensart: "G'red't hat er vui, aber g'sagt hat er nix."
Aus Frust wird Wut, aus Wut wird Radikalisierung
Natürlich redet die Kanzlerin unentwegt auch über die Flüchtlingszuwanderung, aber sagt sie etwas Konkretes dazu, wie die Zuwanderung finanziert werden soll? Wie sie zu organisieren ist? Wie Integration gelingen kann? Integration zum Beispiel von Menschen, die aus vorgestrig patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen kommen - wo der Mann alles ist und die Frau nichts - in den freiheitlich liberalen Rechtsstaat mitteleuropäischer Prägung? Hat sie je einen Plan vorgelegt, wie die Kommunen im Lande, die Landräte und Bürgermeister, mit dieser Aufgabe von einer nationalen Größenordnung wie seit 60 Jahren nicht mehr auf Dauer klarkommen sollen? Die Hilfs- und Sicherheitsorganisationen - Rotes Kreuz, Polizei, die vielen haupt- und ehrenamtlichen Helfer? Hat sie auch nur einmal gesagt: "So schaffen wir das und so machen wir das" statt ihres gebetsmühlenartigen "Wir schaffen das". Hat sie uns Bürgern je ihre Politik in dieser Frage nationaler Größenordnung erklärt, so wie es frühere Kanzler taten?
Weil das alles nicht passiert, hat sich Frust bei vielen Bürgern aufgebaut. Aus Frust wird Wut, aus Wut wird Radikalisierung.
Diese Zeitung hat schon vor Monaten einen Masterplan aus dem Kanzleramt gefordert, der diese Fragen anspricht und so weit wie möglich politisch, ökonomisch und verwaltungstechnisch von oben bis unten, bis in die alleingelassenen Kommunen regelt, damit Klarheit herrscht im Lande. Wozu steht der Kanzlerin der gesammelte Sachverstand eines hochentwickelten Staates zur Verfügung? Sie muss nur einmal machen lassen. Dann gibt es auch Ideen und Pläne, Lösungen und Konzepte. Oder hat Gerhard Schröder recht: Frau Merkel hat Herz, aber keinen Plan.
Desgleichen hat diese Zeitung vorhergesagt, dass die Sache ihr selbst und dem Lande schwer auf die Füße fallen wird, wenn da nichts kommt - Sturz der Kanzlerin und Radikalisierung der Gesellschaft. Erstes ist ohne Weiteres hinnehmbar, Zweites nicht.
In Deutschland passiert jetzt genau das wie in Holland vor zwanzig Jahren: Die breite und vernünftige, die tragende Mitte der Gesellschaft bricht weg, ist wütend ob des Schweigens "von oben", radikalisiert sich oder geht gleich an den politischen Rand. Wer also diese Debatte nicht führt oder gar abwürgt, überlässt jenen das Feld, die mit rechts- oder auch linkspopulistischen Parolen arbeiten.
Deutschland hat sich bereits verändert. Wer aber will ein Land, in dem AfD und Pegida das Sagen haben, die Rechtspopulisten oder offen Rechtsradikalen, die Petrys, Storchs oder Bachmanns, oder Ultralinke wie Wagenknecht und Lafontaine? Oder Idealisten, die alle Flüchtlinge dieser Welt willkommen heißen? Sie alle haben bestenfalls Losungen, aber keine Lösungen.
Info
Paul Scheffer ist Soziologie-Professor in Amsterdam und Mitglied der niederländischen "Partij van de Arbeid", vergleichbar mit der SPD in Deutschland.
Anmerkung der Redaktion
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