Gerade Ältere betroffen

Experten: Der Medikamenten-Mix kann gefährlich werden


Oftmals wissen Patienten nicht, was sie alles für Medikamente nehmen.

Oftmals wissen Patienten nicht, was sie alles für Medikamente nehmen.

Von Lukas Schauer / Onlineredaktion

Gerade ältere Menschen schlucken täglich eine Vielzahl an Pillen. Viele sind damit überfordert, zudem gibt es auch Wechselwirkungen.

München - Neun, zehn Pillen am Tag sind der Durchschnitt, aber manchmal nehmen ältere Menschen mit mehreren Krankheiten auch 20 oder 30 verschiedene Medikamente täglich. Multimedikation oder Polypharmazie nennen Wissenschaftler das Problem.

Mediziner suchen bereits nach Wegen, um Patienten vor den Gefahren eines unübersichtlichen Medikamentenmixes zu schützen. In Frankfurt wurde dafür jetzt extra eine Stiftungsprofessur am Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität neu geschaffen, die seit März Marjan van den Akker aus Maastricht innehat. Sie sagt: "Die komplexe Gesundheitssituation" Betroffener überfordere "zuweilen auch Ärzte".

Keiner hat einen Überblick über die Pillen

Verschiedene Studien zeigen, wie drängend das Problem ist: Die Hälfte aller über 65-Jährigen hat laut Gesundheitssurvey drei oder mehr chronische Erkrankungen. Für jede Krankheit ist ein anderer Facharzt zuständig, der verordnet, was ihm für sein Fachgebiet sinnvoll erscheint. Aber keiner habe den Überblick, schreiben die Autoren der "Leitlinie Multimedikation".

In einem Beispiel erklären sie: "Ein Kopfschmerzpatient erhält vom Hausarzt Paracetamol, vom Neurologen ein Triptan, vom Orthopäden wegen Nackenschmerzen Diclofenac, vom Apotheker Ibuprofen, von der Nachbarin ,weil alles nicht hilft' ASS. Und dann kommt der Patient, der vielleicht Diabetiker ist und als Raucher Lungenprobleme hat, ins Krankenhaus und wird dort ,neu eingestellt'." "Bei der Einnahme von mehr als fünf Wirkstoffen ist nicht mehr vorhersehbar, was im Organismus an Wirkungen, Interaktionen und unerwünschten Nebenwirkungen passiert", heißt es in der Leitlinie weiter.

Wer weiß, wie die Kombinationen wirken?

Eine Studie aus der Notfallambulanz der Universitätsklinik Zürich zeigt die Dimension. Die Patienten hatten im Mittel 6,6 Erkrankungen, jeder zweite wies "therapeutische Konflikte" zwischen seinen Erkrankungen und seiner Medikation auf. Bei jedem Dritten waren es "gravierende, unter Umständen lebensbedrohliche" Therapiekonflikte. Zahlen für Deutschland gibt es nicht.

Besonders gefährdet sind ältere alleinstehende Männer, sagt van den Akker. Bei Ehepaaren laufe es meist besser. Sie berichtet von Studien, bei denen Patienten zu Hause oder beim Arzt alles auf den Tisch legen sollten, was sie einnehmen. "Das stimmte nur selten mit dem überein, was in den Akten stand." Kein Wunder, findet van den Akker: "Die Menschen verlieren einfach den Überblick."

Dass generell zu viel verschrieben wird, glaubt van den Akker nicht, gerade Schmerzmittel würden eher zu wenig verordnet. "Je weniger, desto besser, stimmt nicht immer", sagt sie. Aber man müsse eben auch "genau beobachten, was passiert". Das könnten nur Ärzte und Apotheker gemeinsam leisten.

Mehr als sechs Medikamente am Tag

Der andere Schwerpunkt ihrer Arbeit ist, die Kompetenzen des Patienten zu stärken. "Die Patienten wissen oft gar nicht, wofür sie was nehmen", sagt van den Akker. Je weniger sie verstehen, desto weniger halten sie sich an die Verschreibung, desto mehr Probleme können entstehen. Laut Aktionsbündnis Patientensicherheit sind etwa fünf Prozent aller Krankenhauseinweisungen die Folge nicht korrekter Medikamenteneinnahme.

Die Krankenkassen begrüßen die Stiftungsprofessur als "richtigen Schritt auf dem Weg zu mehr Arzneimittelsicherheit", wie Barbara Voß von der Techniker Krankenkasse sagt. Unter den TK-Versicherten nimmt jeder siebte gleichzeitig fünf und mehr Medikamente, bei den über 60-Jährigen sind es sogar fast 40 Prozent. Die Kassen setzen deshalb große Hoffnung auf elektronische Gesundheitsakten. Die TK will sie zusätzlich um einen "digitalen Medikationsplan" erweitern.

Technische Unterstützung "könnte hilfreich sein", sagt van den Akker. Aber die Lösung des Problems sei das nicht. Den richtigen Medikamentenmix auszutarieren sei zu komplex und zu individuell, um es einem Computerprogramm zu überlassen.