Landau

Wie funktionieren „Exerzitien im Alltag“? Ein Selbstversuch


"Exerzitien im Alltag" sind eine interessante Erfahrung, wie ein Selbstversuch zeigt.

"Exerzitien im Alltag" sind eine interessante Erfahrung, wie ein Selbstversuch zeigt.

"Mach dich auf. Gott will dir begegnen": Mit diesen Worten beginnt eine Ankündigung, die die Redaktion kurz vor Beginn der Fastenzeit erreicht. Die Pfarrei lädt ein zu den alljährlichen "Exerzitien im Alltag", zur Beziehungspflege mit Gott, zum geistigen Austausch in der Gruppe. Wie funktioniert ein Gespräch mit Gott? Wer sucht es - in einer Zeit, wo man non stop über unzählige Apps mit hunderten von Menschen kommunizieren kann? Und darf bei den Exerzitien auch jemand mitmachen, der sonntags lieber ausschläft, als in die Kirche zu gehen? Die Einladung ist der Beginn von fünf Wochen Selbstversuch - mit überraschendem Ausgang.

"Wo machst du mit?!" Der junge Kollege kann sich das Lachen kaum verkneifen, nachdem ich Gemeindereferentin Barbara Winkler am Telefon mein Anliegen erklärt habe. Ich möchte gerne teilnehmen an den Exerzitien im Alltag. Und ich darf einfach kommen. Ob ich getauft bin, katholisch, evangelisch, bekenntnislos, ob ich überhaupt an irgendwas glaube - diese Frage wird mir nicht gestellt.

"Du wirst den Altersdurchschnitt erheblich senken", prophezeit mir unser Volontär, dessen Vater Diakon ist und auch Exerzitien anbietet. Beim ersten Treffen finde ich mich wieder in einer Runde von elf Frauen und muss meinem Kollegen Recht geben. Bis auf wenige Ausnahmen könnten sie meine Mütter sein, eine durchaus auch meine Oma. Wir sitzen auf Holzstühlen im Kreis um eine Kerze, die auf einem Tuch steht, in einem kleinen Raum im Pfarrzentrum Sankt Johannes.

Gemeindereferentin Barbara Winkler freut sich, dass viele bekannte Gesichter in der Runde zu sehen sind - übrigens ausschließlich weibliche. "Männer melden sich selten zu den Exerzitien an", verrät Barbara Winkler mit einem erfahrenen Lächeln. "Und wenn, dann kommen sie nicht." Gemeinsam mit zwei Helferinnen bietet Winkler seit Jahren diese Veranstaltung in der Fastenzeit an. Die meisten Frauen sind von Anfang an dabei. "Ich hab' mich auch über die Fastenzeit hinaus täglich mit den Exerzitien befasst", sagt eine bei der Begrüßungsrunde. "Bei mir hat sich wieder einiges angestaut, worüber ich nachdenken muss", meint eine andere. "Das ist wie beim Garten. Da sammelt sich über den Winter viel Altes, was ich im Frühjahr wegräumen möchte." Jede von ihnen scheint genau zu wissen, dass sie hier etwas Wohltuendes erwartet. Und ich? Warum bin ich hier? Aus Reporterinteresse, erzähle ich. Gleichzeitig beschleicht mich die Ahnung: Hier musst du hauptberuflich Mensch sein, sonst kommst du nicht dahinter.

Ich nehme eines der Gehefte entgegen, die Barbara Winkler verteilt. 162 DIN-A-5-formatige Seiten mit geistigen Impulsen, Bildern, Liedern und Texten für jeden Tag, Thema "Barmherzigkeit". Ich stutze beim Blick auf das Titelblatt. "Aus DEINER Liebe leben" - ist das an diesen Gott gerichtet, den wir suchen, oder an mich? Aus seiner Liebe leben oder aus meiner? Zuhause binde ich die feinsäuberlich vorgelochten Blätter mit einem ledernen Faden zusammen, an dessen Ende ein T-förmiges Kreuz hängt. Es ist ein Souvenir aus Assisi, ein so genanntes Tau-Kreuz, und steht unter anderem für Erneuerung, ließ ich mir sagen. Ich beschließe, dass es zu den Exerzitien passt.

Dann blättere ich durch die Seiten. Für jeden Tag gibt es einen Impuls in Form eines Textes oder Bildes. Mindestens 20 Minuten soll man sich damit befassen und abends das Gebet der liebenden Aufmerksamkeit, einen ausführlichen Tagesrückblick, verrichten. Ich sitze an meinem Küchentisch. Das Handy ist aus. Die Anleitung gibt vor, man soll sich einen Platz suchen, an dem man sich wohlfühlt, und Störfaktoren beseitigen. Meine Augen gleiten über einen Text, der mir sagt, dass Gott auf mich wartet. "Ich wollte schon immer mit dir reden, aber du hast mir keine Zeit gelassen", lautet eine Zeile.

"Kommen Sie über das Gelesene ins Gespräch mit Gott", lädt mich die Anweisung ein. Ich fange an, auf meinem Stuhl zu kippeln. Sprechen mit Gott? Ich lausche in mich hinein, warte. Nichts. "Sprich mit mir", sage ich innerlich. Nichts. Vielleicht hätte ich das Handy nicht ausschalten sollen. Womöglich muss mich gerade jetzt jemand dringend erreichen. Zwei Minuten später stelle ich fest, dass meine Gedanken ganz woanders sind. Ich zwinge mich zur Konzentration. "Das hier kann interessant für dich sein", sagt mir eine innere Stimme. Was heißt es, mit Gott zu sprechen? Kann man wirklich eine Stimme hören oder geht man irgendwann dazu über, in Gedanken mit sich selbst zu reden? Und ist das dann Glaube oder schlichtweg Realitätsflucht und Selbstbetrug?

Eine Woche später trifft sich die Runde wieder zum Gespräch. Es gibt neue Impulse und einen Erfahrungsaustausch. Ich erzähle, dass Gott mir keine Antworten gibt. Und gebe zu, dass ich das unbefriedigend finde. Eine andere Teilnehmerin sagt, dass sie auch noch nie eine Antwort gehört hat - obwohl sie schon jahrelang Exerzitien im Alltag macht. "Rede, schreie, fluche, lauf fort - komm wieder", eine Liedzeile aus den Impulsen hat ihr Kraft gegeben: Zweifel sind erlaubt, Hauptsache, man hört nicht auf, Gott zu suchen.

Zweifel kommen mir auch beim Lesen der Impulse in der zweiten Woche. Bibelstellen stehen im Fokus. Man soll sie langsam lesen, sich in die Figuren hineinversetzen, die Geschichte aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Aber bei keiner will es mir so recht gelingen. Mal finde ich den Text sprachlich zu holprig, ein anderes Mal gefällt mir die Gottesdarstellung nicht. Er wirkt mir zu belehrend, zu strafend. Mich überkommt ein Gefühl, das ich schon manches Mal in der Kirche bei besonders konservativen Pfarrern verspürt habe. Aufzustehen, laut zu sagen "So ein Unsinn" und das Gebäude zu verlassen. Barbara Winklers Tipp: "Zurückkehren zu den Impulsen, an denen man sich stößt. Was einen ärgert oder besonders beschäftigt, hat in der Regel mit einem selbst zu tun."

Als ich schließlich die Geschichte von den "Spuren im Sand" lese, geschieht etwas mit mir. Zum ersten Mal sehe ich die Geschichte - die ich so gut kenne, dass ich sie im ersten Moment abgedroschen finde - in einem anderen Licht. Dass Gott den Protagonisten in den schwersten Zeiten seines Lebens getragen hat und deswegen in diesen Phasen nur eine Spur im Sand zu sehen ist, ist plötzlich nicht mehr die Hauptaussage für mich. Stattdessen springt mich die eigentliche Dramatik an, die Frage der Figur, warum denn nur eine Spur zu sehen ist. Die Vermutung, Gott habe ihn in den entscheidenden Momenten seines Lebens allein gelassen. Das offensichtliche Nicht-Erkennen, dass Gott immer da war. Denn es führt mich unweigerlich zur Frage: Was hilft Gottes Gegenwart, wenn man sie nicht spürt? "In welchen Situationen wurden Sie getragen?", fragt mich der Impuls. Ich versuche mich zu erinnern an Momente, die schlimm für mich waren. Eigentlich erstaunlich, dass ich das gepackt habe, wundere ich mich im Nachhinein. Und plötzlich macht es "Klick" in meinen Kopf. Weil irgendwas oder irgendwer dir Kraft gegeben hat. Es ist eine Antwort. Und ob ich sie mir in diesem Moment selbst gegeben habe oder ob sie von Gott kommt, ist völlig egal. Ich beginne mich zu fragen, was genau mir Kraft gegeben hat. Wer es verdient hätte, mal wieder von mir gefragt zu werden, wie es ihm eigentlich geht. Oder ob ich bestimmte Menschen vielleicht mal wieder anrufen müsste.

Erstaunlicherweise kann ich es die kommenden Tage kaum erwarten, mit den Exerzitien fortzufahren. Die anfängliche Pflicht beginnt tatsächlichem Interesse zu weichen. In der vierten Woche geht es um den Lebensweg und um die Menschen, die einen begleitet haben. Sofort bin ich wieder bei den Spuren im Sand. Wer hat es verdient, entlang meiner Lebenslinie eingezeichnet zu werden? Wem muss ich einzeichnen, einfach weil er oder sie mich geprägt haben - ohne dass ich es wollte? Und wem muss ich ehrlicherweise streichen, auch wenn ich ihn/sie gerne an meiner Seite sehen würde? Auch beim Erfahrungsaustausch werden die Gespräche persönlich. Abseits von allgemeinen Glaubensfragen wird über private Krisen gesprochen. Ich glaube, mich in manchen Aussagen wiederzufinden - auch wenn die Frauen älter sind.

Beim letzten Treffen in der Karwoche gibt es selbstgebackenes Brot, in Lammform modellierte Butter und Wein. Über die Ostertage beschäftigt mich die schwierige Frage, wie Gott seinen Sohn für den Tod am Kreuz hingeben konnte. Das lässt sich doch nie und nimmer mit dem Bild vom liebenden Vaters vereinbaren, hat auch eine andere Exerzitienteilnehmerin gemeint. Eine Antwort habe ich (noch) nicht. Unzufrieden bin ich deswegen nicht. Schließlich habe ich die vergangenen Wochen erfahren: Es kann interessanter sein, sich über Fragen und Zweifel bewusst zu werden, als sich in der Sicherheit einer Wahrheit zu wiegen.