Politik

Mord-Komplott im türkischen Wahlkampf?

Bis zur Abstimmung sind es keine zwei Monate mehr. Nun macht ein Gerücht die Runde:Der Oppositionsführer sollte getötet werden - von Ali Agca, dem Papst-Attentäter.


Papst-Attentäter Agca (l.) und CHP-Chef Kilicdaroglu.

Papst-Attentäter Agca (l.) und CHP-Chef Kilicdaroglu.

Von Hüseyin Ince

Ankara - Die Wunden, die das verheerende Erdbeben Anfang Februar im Südosten der Türkei mit geschätzten 50 000 Toten gerissen hat, sind noch lange nicht verheilt. Zehntausende Menschen sind weiterhin obdachlos und leben in Zelten. Die Wut auf die Regierung wirkt groß.

Wie es aussieht, hat die Naturkatastrophe den amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan dazu gezwungen, die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zum geplanten Datum abzuhalten, nämlich am 14. Mai 2023 - in weniger als zwei Monaten also. Der Grund: sinkende Umfragewerte für Erdogan und seine Partei AKP.

Der im Berliner Exil lebende türkische Journalist Can Dündar prophezeit: "Ein Beben brachte Erdogan an die Macht, ein Beben wird ihn stürzen." Der heute 69-Jährige war nämlich nach einem Erdbeben am 17. August 1999 mit einem Epizentrum südöstlich von Istanbul gewählt worden. Etwa 17 500 Menschen waren gestorben.

Im Moment liegt das Oppositionsbündnis aus sechs Parteien in Umfragen (durchgeführt zuletzt am 16. März von EuroPoll) recht klar vorne. Allein die größte "Cumhuriyet Halk Partisi" (CHP) könnte mehr Stimmen bekommen (31,6 Prozent) als die regierende "Adalet ve Kalkinma Partisi" (AKP). Sie liegt derzeit bei 29,8 Prozent. Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der CHP, tritt auch als direkter Präsidentschafts-Gegenkandidat zu Erdogan an.

Papst-Attentäter Agca (l.) und CHP-Chef Kilicdaroglu.

Papst-Attentäter Agca (l.) und CHP-Chef Kilicdaroglu.


Nun ist ein Video in den Sozialen Netzwerken aufgetaucht, das Gerüchte befeuert. Hauptdarsteller: ein Mann, an den sich auch in Europa viele Leser erinnern werden - Mehmet Ali Agca, der am 13. Mai 1981 versuchte, Papst Johannes Paul II. zu erschießen, während der winkend auf dem Papamobil über den Petersplatz durch die jubelnde Menge zu einer Generalaudienz fuhr.


Der Papst überlebte knapp durch eine Notoperation. Die Motive Agcas blieben unklar, der Fall wurde nie ganz aufgeklärt. Agca wurde gefasst, lebenslang eingesperrt und 19 Jahre später an die Türkei ausgeliefert, wo er inzwischen wieder in Freiheit lebt. Er konvertierte zwischendurch zum Christentum und dann wieder zurück zum Islam, nannte sich vor Gericht Jesus Christus. Im Nachhinein sagten Ermittler: Er wollte verrückt wirken.

Ein Video zeigt Agca in vertrauter Runde mit Rechten

In dem Video von Anfang März ist Agca - inzwischen 65 Jahre alt - mit 30 bis 40 türkischen Rechten im Istanbuler Stadtteil Büyükcekmece in einer Luxuswohnung zu sehen. Ihm wurden schon immer starke Verbindungen in die türkische rechte Szene nachgesagt. In dem Video wird geplaudert. Manche loben Erdogan dafür, eine Art Sultans-Regime eingerichtet zu haben. Eine Alleinherrschaft.

In den Tonaufnahmen zum Video ist von einem Mord-Komplott nichts zu hören. Doch im Nachhinein gab Agca ein etwas wirres Interview im Sender "Oda TV". Das ist ungewöhnlich, weil er seit Jahren nicht mehr öffentlich in Erscheinung getreten ist, und als eine Art Phantom gilt. Stets wollten Journalisten wissen, wer jetzt eigentlich wirklich das Attentat auf den Papst Auftrag gegeben hatte. Agca schweigt darüber bis heute.

In dem Gespräch mit "Oda TV" sagt er: "Ich wurde reingelegt." Aber es wird bemerkenswerter: Er wolle den Teilnehmern der Versammlung von Büyükcekmece eindringlich sagen: "Oppositionsführer Kilicdaroglu ist ein guter Mann. Es gibt keinen Grund, ihm etwas anzutun. Instrumentalisiert mich ja nicht für eure dreckige Politik!"


Das wirft Fragen auf. Wollten rechte Gruppierungen also Agca als Attentäter rekrutieren? Hat Agca das Interview zu seinem eigenen Schutz gegeben, um Öffentlichkeit zu erzeugen, fühlte er sich bedroht? Rechtsradikale Nationalisten sind in der Türkei durchaus gewaltbereit. Selbst ein aufstrebender junger Politiker der rechten Partei MHP, Sinan Ates, wurde Ende Dezember erschossen. Innerhalb der rechten Szene hatte er viele Gegner, heißt es.

Angenommen, es wurde versucht, ein Mord-Komplott gegen Kilicdaroglu zu organisieren. Sein Tod würde zuallererst Erdogan nützen. Damit würde der stärkste politische Gegner verschwinden. Zudem gilt die MHP mit ihren rechten Netzwerken als der informelle Koalitionspartner der AKP. Jede Gesetzesänderung der Regierung wird im Parlament mit den Stimmen der MHP problemlos durchgewunken.

Für die MHP ist Erdogan eine Ikone, der für Tradition, Nationalismus und Religion steht - wichtige Säulen der Partei. Ihre Mitglieder fürchten, viele Privilegien und Posten zu verlieren, sollte die AKP im Mai tatsächlich abgewählt werden.

Und Kilicdaroglus CHP tritt gemeinsam mit fünf anderen Parteien schließlich mit dem Versprechen an, das politische System zu ändern, wieder ausgeglichener zu gestalten und das Amt des Präsidenten zu schwächen, mehr Entscheidungsmacht an das Parlament zu verschieben - sprich: Erdogans Ein-Mann-System aufzubrechen und zu demokratisieren, das über mehr als 20 Jahre hinweg entstanden ist.

Es bleibt spannend - auch nach dem Urnengang

Jede wichtige Entscheidung, so glauben es kritische türkische Journalisten, wandert erst einmal über Erdogans Tisch, muss von ihm oder seinen vielen Stellvertretern genehmigt werden. Vor Erdogan hatte das Präsidentenamt eine größtenteils repräsentative Funktion.


Die nächsten Wochen werden politisch sehr spannend. Denn auch dann, wenn die Wahl erst einmal für Erdogan verloren wäre, müssten sich sechs (!) Oppositionsparteien darüber einigen, wer welchen Posten bekommt und wie die Ministerien verteilt werden. Kritische Journalisten wie Emin Cölasan von der Zeitung "Sözcü" sind skeptisch, dass das problemlos gelingt.

Vieles ist denkbar. Käme es nach dem 14. Mai zum Krach innerhalb einer siegreichen Oppositions-Koalition, könnte Erdogan die Lage nutzen und irgendwann Neuwahlen ausrufen - die er dann vielleicht wieder gewinnt. Genau so geschah es nämlich schon bei den vorletzten Parlamentswahlen 2015.