Russische Invasion

Krieg gegen die Ukraine: So ist die Lage

Die Ukraine registriert vermehrt russische Angriffe auf zivile Ziele und sieht den Grund in der angekündigten eigenen Offensive. Ein Dämpfer droht den Ukrainern beim Nato-Gipfel. Die News im Überblick.


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Der Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj: Mychajlo Podoljak.

Von dpa

Kurz vor ihrer geplanten Frühjahrsoffensive hat die Ukraine Russland vorgeworfen, gezielt Wohngebiete zu attackieren. "Es gibt keinen Zweifel daran, dass sie direkte Angriffe eben auf zivile Mehrfamilienhäuser oder Orte ausführen, an denen es viele Häuser der Zivilbevölkerung gibt", sagte Präsidentenberater Mychajlo Podoljak in der Nacht im ukrainischen Fernsehen. Er meinte, durch die Taktik wolle Moskau die Ukrainer provozieren.

Unterdessen verlängerte Kiew das Kriegsrecht und die allgemeine Mobilmachung vorerst bis Sommer. Zudem hofft die Ukraine auf weitere Waffenlieferungen aus dem Westen und auch die Unterstützung durch Kampfjets. Die Hoffnungen auf eine konkretere Nato-Beitrittsperspektive drohen dagegen vorerst enttäuscht zu werden, wie die Deutsche Presse-Agentur erfuhr. Die US-Regierung sprach unterdessen von dramatischen Verlusten der russischen Streitkräfte im Ukraine-Krieg seit Dezember.

Die Ukraine verlängerte das nach dem russischen Einmarsch verhängte Kriegsrecht und die ausgerufene allgemeine Mobilmachung um weitere 90 Tage bis zum 18. August. Für die beiden Anordnungen ergab sich im Parlament eine deutliche Zweidrittelmehrheit, wie Abgeordnete mitteilten. Kriegsrecht und Mobilmachung waren unmittelbar nach dem russischen Einmarsch am 24. Februar 2022 ursprünglich für 30 Tage ausgerufen worden. Seitdem wurde die Geltungsdauer mehrfach verlängert. Männer im wehrpflichtigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das osteuropäische Land daher nur in Ausnahmefällen verlassen.

Die Ukraine will in Russlands jüngsten Militärschlägen eine veränderte Taktik erkannt haben. Die direkten Angriffe auf zivile Häuser und Orte sollten Kiew zu einer verfrühten Gegenoffensive provozieren, meinte Berater Podoljak. Dazu wolle der Kreml testen, ob die Ukraine in der Lage sei, den eigenen Luftraum zu schützen. In den vergangenen Tagen hatte es mehrere Raketenangriffe mit zivilen Opfern gegeben. Insbesondere in Uman forderte ein Raketeneinschlag in einem Wohnhaus am Freitag viele Todesopfer. Auch in der Stadt Pawlohrad im Gebiet Dnipropetrowsk verursachten russische Marschflugkörper schwere Schäden und töteten mindestens zwei Menschen.

Mit ihrer Bitte nach ausländischen Kampfjets war die Ukraine bislang im Westen noch nicht erfolgreich. Das werde sich nach Einschätzung von Außenminister Kuleba aber ändern: Es sei eine "Frage der Zeit", bis die USA der Lieferung von F-16-Kampfflugzeugen zustimmen werde. Er meinte, ein Erfolg der ukrainischen Gegenoffensive habe Einfluss auf das Vorgehen Amerikas in der Sache. "Wenn wir die F-16 bereits jetzt hätten, wäre die Gegenoffensive weitaus schneller", sagte er.

Beim nächsten Nato-Gipfel im Juli droht Kiew indes eine Enttäuschung hinsichtlich einer möglichen Mitgliedschaft im Militärbündnis. Nach dpa-Informationen haben zuletzt Bündnismitglieder wie die USA und Deutschland hinter verschlossenen Türen deutlich gemacht, dass sie vorerst keine Zusagen machen wollen, die substanziell über eine vage Nato-Erklärung aus dem Jahr 2008 hinausgehen. In ihr hatten die damaligen Staats- und Regierungschefs vereinbart, dass die Ukraine und Georgien Nato-Mitglieder werden sollen. Einen konkreten Zeit- oder Fahrplan dafür gab es allerdings nicht.

Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit ist im russischen Grenzgebiet nahe der Ukraine ein Güterzug nach einer Explosion entgleist. In der Region Brjansk seien unweit der Siedlung Belye Berega am Dienstagabend eine Lokomotive und rund 20 Waggons "wegen illegaler Eingriffe in die Arbeit des Eisenbahnverkehrs" von den Schienen abgekommen, teilte die russische Eisenbahn RZD auf Telegram mit.

Der Gouverneur von Brjansk, Alexander Bogomas, schrieb von einem "unbekannten Sprengkörper", der explodiert sei. Verletzt worden sei ersten Erkenntnissen zufolge niemand. Bereits am Montag war in derselben Region ein Zug entgleist, nachdem Unbekannte die Schienen gesprengt hatten.

Etwas später am Dienstagabend hieß es in russischen Telegram-Kanälen außerdem, in der ebenfalls an die Ukraine grenzenden Region Belgorod habe eine Drohne nahe einer im Bau befindlichen Verteidigungsanlage einen Sprengsatz abgeworfen. Dabei sei ein Mann verletzt worden. Offiziell bestätigt wurde das aber zunächst nicht.

Russland hat nach Einschätzung von US-Geheimdiensten im Angriffskrieg gegen die Ukraine in den vergangenen Monaten schwere Verluste erlitten. Seit Dezember seien mehr als 20.000 Soldaten getötet und rund 8000 verwundet worden, sagte der der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby.

Nachdem zunächst unklar war, ob sich die Zahlen nur auf die Kämpfe um Bachmut bezogen, bestätigte ein Vertreter des Nationalen Sicherheitsrates der dpa, dass sich die Opferzahlen auf die Kämpfe in der gesamten Ukraine beziehen. Unabhängig überprüfen lassen sich die Zahlen nicht. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow nannte die Zahlen "absolut aus der Luft gegriffen". Washington verfüge nicht über diese Informationen.

US-Generalstabschef Mark Milley hatte bereits im November von weit mehr als 100.000 getöteten oder verwundeten russischen Soldaten in den ersten acht Kriegsmonaten berichtet. Das Gleiche gelte wahrscheinlich für die ukrainische Seite, sagte er damals.

Unterdessen behauptete das russische Verteidigungsministerium nun, dass allein im Monat April mehr als 15.000 Ukrainer getötet worden seien. Minister Sergej Schoigu behauptete bei Telegram, das russische Militär habe acht feindliche Flugzeuge, 277 Drohnen und 430 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge sowie 225 Artilleriegeschütze abgeschossen. Zu eigenen Verlusten machte Schoigu keine Angaben. Das Ministerium fiel bereits oft mit überhöhten Angaben zu feindlichen Verlusten auf.

Nach Einschätzung britischer Geheimdienste verfügt Russland nicht über genügend Munition, um bei Offensiven in der Ukraine entscheidende Fortschritte zu erzielen. Moskau räume der Stärkung der Rüstungsindustrie zwar oberste Priorität ein, hieß es im Kurzbericht des britischen Verteidigungsministeriums - die Branche werde dem hohen Kriegsbedarf jedoch nicht gerecht. Die Munitionsknappheit führe außerdem zu internen Streitigkeiten, vor allem zwischen der Armee und dem Chef der russischen Söldnertruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin.