Politik

Joachim Herrmann mit neuem Migrations-Kurzs: "Zwischen Herz und Verstand muss kein Widerspruch sein!"

Die Flüchtlingszahlen steigen, viele Kommunen fühlen sich überfordert. Zugleich fehlen Arbeitskräfte. Bayerns Innenministerstellt Joachim Herrmann einen neuen Kurs beider Migration in Aussicht.


"Es ist schon ein Problem, dass die Bundesregierung als erstes sagt, was wir lieber nicht machen wollen, anstatt echte Problemlösungen anzubieten." Innenminister Joachim Herrmann (CSU) beim Interview mit der AZ in seinem Büro

"Es ist schon ein Problem, dass die Bundesregierung als erstes sagt, was wir lieber nicht machen wollen, anstatt echte Problemlösungen anzubieten." Innenminister Joachim Herrmann (CSU) beim Interview mit der AZ in seinem Büro

Von Interview: Natalie Kettinger, Heidi Geyer

AZ Interview mit Joachim Herrmann: Der 66-jährige Jurist ist seit 2007 bayerischer Innenminister. Aufgewachsen ist der CSU-Politiker in Erlangen, wo er auch heuer seinen Stimmkreis bei der Landtagswahl verteidigen will. Der Mittelfranke ist verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern.

AZ: Herr Herrmann, Ihr Parteifreund Manfred Weber sieht die EU in eine neue Migrationskrise schlafwandeln - Sie auch?

JOACHIM HERRMANN: Wir haben enorm steigende Flüchtlingszahlen und wir spüren überall, dass wir an Grenzen stoßen. Viele andere europäische Länder sagen von vornherein, dass sie sich nicht an der Flüchtlingsaufnahme beteiligen wollen. Das ist schon ein echtes Problem. Daher ist es dringend notwendig, dass die EU ihren Beitrag leistet und die Bundesregierung besser dagegen steuert.

Joachim Herrmann im Gespräch mit den Politik-Redakteurinnen Natalie Kettinger und Heidi Geyer (l.).

Joachim Herrmann im Gespräch mit den Politik-Redakteurinnen Natalie Kettinger und Heidi Geyer (l.).

Sollte die EU denn bei den Visa Druck machen auf die Länder, die bei Rückführungen zögern?

Das ist eine von mehreren Maßnahmen. Ich halte es jedenfalls nicht für sinnvoll, dass Frau Faeser das von Anfang an ablehnt. Es ist schon ein Problem, dass die Bundesregierung als erstes sagt, was wir lieber nicht machen wollen, anstatt echte Problemlösungen anzubieten. Gerade weil wir in Deutschland am stärksten betroffen sind. Wichtig ist auch, dass die Rückführungen verstärkt werden sollen seitens der EU. Das steht zwar auch im Ampel-Koalitionsvertrag, nur ist da jetzt ein Jahr lang nichts geschehen. Nun ist ja der Liberale Joachim Stamp zum neuen Migrationsbeauftragten ernannt worden, da hoffe ich auf Bewegung.

Was genau erwarten Sie?

Dass auf Worte Taten folgen: Die Rückführungen verstärken, dazu gehören auch Vereinbarungen mit Herkunftsländern. In solchen Abkommen muss es vor allem um deren völkerrechtliche Verpflichtung zur Rücknahme ihrer Staatsangehörigen gehen, aber auch um Fluchtursachenbekämpfung beispielsweise durch Erhöhung von Entwicklungshilfe. Das ist alles bisher nicht geschehen, steht aber im Koalitionsvertrag. Bisher hieß es nur: mehr Migration nach Deutschland. Unbestritten, dass wir Arbeitskräfte brauchen. Aber diejenigen, die nicht hier sein dürfen oder nicht arbeiten wollen, müssen wieder in ihre Heimat zurückkehren.

"Die Diskussion mit den richtigen Worten führen"

Was halten Sie von Ankunftszentren außerhalb der EU?

Auch das ist ein Punkt, den man diskutieren muss. Diejenigen, die bei einem solchen Verfahren als Flüchtlinge anerkannt werden, können dann geordneter in der EU verteilt werden. So könnte man auch die gefährliche Flucht über das Mittelmeer etwas eindämmen. Fraglich ist allerdings, ob sich diejenigen, die dort abgelehnt werden, dann nicht doch auf den Weg nach Europa machen. Das müsste unterbunden werden.

Lassen Sie uns in das Jahr 2018 zurückblicken. Da war Migration auch schon ein großes Thema, das die CSU mit einem anderen Vokabular behandelt hat: Stichwort Asyltourismus. Das hat bei der Wahl Punkte gekostet. Wie wird man heuer damit umgehen?

Es ist wichtig, diese notwendige Diskussion mit den richtigen Worten zu führen. Die Probleme, die vorhanden sind, nehmen wir ernst und sprechen das auch klar an. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass Kommunalpolitiker, auch von Grünen und SPD, sagen: "Wir können nicht mehr".

Ist das eine Sprachregelung? Kommt die vom Verstand oder vom Herzen?

Als Sprachregelung würde ich das nicht bezeichnen. Ich habe viele Konferenzen mit Kommunalpolitikern und es geht darum, praktische Probleme zu lösen. Der Ministerpräsident empfiehlt, der Argumentation des Innenministers zu folgen. Und ich habe den Eindruck, dass das große Zustimmung findet. Zwischen Herz und Verstand muss kein Widerspruch sein - das ist dann meist am besten.

Man wird also nicht wieder versuchen, der AfD mit deren Methoden das Wasser abzugraben?

Die AfD ist nicht nur ein politischer Konkurrent, sondern muss in den radikalen Teilen, die es gibt, konsequent bekämpft werden. Damit muss sich die CSU ganz hart auseinandersetzen und das tun wir. Eine Zusammenarbeit kommt nicht infrage. Die CSU steht für ihre eigenen Positionen, und für die kämpfen wir! Wir stehen für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und treten dieser Polarisierung entgegen.

Zurück zu den Geflüchteten: Was ist konkret zu tun, um die aktuelle Situation zu verbessern?

Auf keinen Fall wollen wir die Grenzen schließen. Wir haben in Bayern mehr Ukrainer aufgenommen als Frankreich. Dazu kommen die Asylbewerber. Es ist aber nicht verständlich, dass die Bundesregierung immer noch zusätzliche freiwillige Aufnahmeangebote macht, zum Beispiel zusätzliche 1000 Afghanen pro Monat, die keine Ortskräfte waren. Das kam von den Grünen und wurde von der Bundesregierung beschlossen. Und Deutschland hat Italien gerade wieder einige Hundert Flüchtlinge abgenommen. Die objektiven Zahlen sind dabei anders als es oft dargestellt wird: Die Italiener nehmen im europäischen Vergleich, gemessen am Anteil an der EU-Bevölkerung, unterdurchschnittlich Asylbewerber auf, Deutschland überdurchschnittlich viele. Mit ihrer Aufnahmebereitschaft suggeriert aber die Bundesregierung das Gegenteil und vor allem, dass wir entgegen allen Warnungen der Kommunen noch genug Aufnahmekapazitäten hätten.

"Wir wollen bei gut Integrierten Mittel und Wege finden"

Unter anderem SPD-Landrätin Rita Röhrl kritisiert, dass viele Geduldete nicht arbeiten dürfen, sich deshalb nicht selbst finanzieren können und als Folge die Unterkünfte blockieren.

Alle Ukrainerinnen und Ukrainer und alle anerkannten Flüchtlinge dürfen doch arbeiten. Auch sonst werden wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Aspekte heute schon stärker berücksichtigt und wir sind dran, dass wir bei gut integrierten Menschen Mittel und Wege finden, dass sie bleiben dürfen, beispielsweise durch die Ausbildungsduldung, bei deren Erteilung Bayern einen Spitzenplatz einnimmt. In der Bevölkerung sehen das viele Menschen sicher etwas anders als vor zehn Jahren, weil wir heute einen Mangel an Arbeitskräften haben. In Bayern funktioniert die Integration in den Arbeitsmarkt übrigens viel besser als in anderen Bundesländern: Bei uns ist die Arbeitslosigkeit von Ausländern deutlich niedriger, nämlich nur bei acht Prozent bei Männern und zehn Prozent bei Frauen. Zugleich haben wir die niedrigste Kriminalitätsrate.

War es ein Fehler, den Geduldeten in der Vergangenheit das Arbeiten zu verbieten?

Die damaligen Rahmenbedingungen sind entscheidend: Beim Regierungswechsel von Bundeskanzler Gerhard Schröder auf Angela Merkel hatten wir fünf Millionen Arbeitslose. Das war eine ganz andere Zeit. Da war keine Stimmung für mehr Zuwanderung von Arbeitskräften. Das hat sich geändert und dem tragen wir Rechnung. Allerdings darf man auch nicht vergessen, dass noch Geduldete, aber eigentlich rechtskräftig abgelehnte Asylbewerber ausreisepflichtig sind. Hier müssen wir verhindern, dass das Asylrecht missbraucht wird, um die Regeln für Arbeitskräfteeinwanderung zu umgehen.

Selbst Spüler und Reinigungskräfte werden händeringend gesucht. Es gibt sicherlich viele Unternehmer, die gerne auch Geduldete einstellen würden. Was ist deren Perspektive am Arbeitsmarkt?

Bei den Flüchtlingen aus der Ukraine arbeiten mittlerweile schon circa 12 200 in festen Beschäftigungsverhältnissen. Wir werden uns bemühen, dass wir auch bei den Asylbewerbern vorankommen, die Menschen in den Arbeitsmarkt zu bringen, wo es vertretbar ist.

Hat dann auch der geduldete Nigerianer Grund zur Hoffnung?

Vorrangig sehe ich hier diejenigen, die als Flüchtling anerkannt werden. Außerdem engagieren wir uns mit der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft auf dem Balkan, um dort Arbeitskräfte anzuwerben. Aber wenn ein Nigerianer nach einigen Jahren gut integriert ist, wird es sicher auch für ihn Möglichkeiten geben.

"Nancy Faeser schätzt ihre Chancen realistisch ein"

Die Ampel hat mittlerweile drei Gesetze - zur Fachkräfteeinwanderung, das Chancenaufenthaltsrecht und zum Einbürgerungsrecht - vorgelegt. Die Union ist immer dagegen. Wie sieht Ihr Vorschlag aus?

Das Chancenaufenthaltsrecht ist so formuliert, dass diese Menschen einen Anspruch auf Bürgergeld bekommen und dann eineinhalb Jahre Zeit haben, um sich Arbeit zu suchen. Das halte ich für einen Fehler, da wird das Pferd von hinten aufgezäumt: Zuerst sollten diese Menschen einen Arbeitsplatz finden, sich integrieren und dann sollten sie ein Aufenthaltsrecht bekommen. Ich halte es zudem für falsch, dass im Staatsangehörigkeitsrecht doppelte Staatsangehörigkeiten beliebig zugelassen werden sollen. Dafür kann es im Einzelfall gute Gründe geben. Aber der Regelfall sollte es nicht sein. Ein Beispiel: Wenn wir bei der heutigen Situation jedes Jahr Tausenden Menschen aus Russland ohne weiteres neben der russischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit verleihen würden, dann würden wir jetzt dazu sicherlich sehr viele Diskussionen führen.

Nancy Faeser hat angekündigt, dass sie Spitzenkandidatin in Hessen wird. Sowohl im Wahlkampf als auch beim Verlieren der Wahl will sie Innenministerin bleiben. Ihre Meinung dazu?

Nancy Faeser schätzt ihre Chancen offenbar realistisch ein. Nämlich, dass Boris Rhein Ministerpräsident bleibt.

Die Causa Maaßen und Werteunion - wie sehen Sie die?

Herr Maaßen hat ja kein Amt mehr. Für das, was in der sogenannten Werteunion geschieht, habe ich kein Verständnis. Das muss die CDU klären, wie sie damit umgeht. Als CSU haben wir da eine klare Linie und die Werteunion ist für uns kein Grund, dass wir Unvereinbarkeitsbeschlüsse fassen müssten. Mein Eindruck ist, dass die Werteunion in Bayern keine große Rolle spielt.

Sie werden bei der Landtagswahl 67 Jahre alt sein. Ein Alter, in dem andere in Rente gehen. Warum machen Sie trotzdem weiter?

Viele bis hin zum Ministerpräsidenten haben mich darum gebeten, vielleicht auch angesichts der schwierigen Situation im Land. Wenn ich weiter gebraucht werde, will ich mich dem nicht verschließen. Ich habe noch viele Ideen und fühle mich fit dafür.