Neues Buch von Götz Aly

Siegfried Lichtenstaedter, der Prophet der Vernichtung


Der Historiker Götz Aly.

Der Historiker Götz Aly.

Von Robert Braunmüller / TV/Medien

In den zwanziger Jahren warnte der bayerische Jurist vor dem Holocaust. Götz Aly hat seine Schriften herausgegeben.

Seinen letzten erhaltenen Brief richtete Siegfried Lichtenstaedter an die Münchner Zollfahndung. Er entschuldigte sich über "nicht vorschriftsmäßiges Papier" und bat, aus einem Korb, den ihm der nach Kaunas deportierte Jurist Hans Steiner überlassen hatte, zur persönlichen Nutzung zwei Hemden, zwei Paar Strümpfe und vier bis sechs Taschentücher entnehmen zu dürfen. Die Dienststelle für Vermögensverwertung lehnte dies ab, und ein Jahr später verfielen auch Lichtenstädters Vermögen, sein Hausrat und seine Pensionsansprüche der Staatskasse.

Als Lichtenstaedter den Brief schrieb, lebte er schon zwei Jahre in einer sogenannten Judenwohnung" im zweiten Stock der Maximilianstraße 9. Der Besitzer der in dem Schreiben erwähnten Hemden, Socken und Taschentücher war bereits tot: Steiner war einer jener Münchner Juden, die 1941 ins Ghetto von Riga deportiert werden sollten. Da dieses als überfüllt galt, ließ die SS den Zug in Kaunas anhalten und 1000 Männer, Frauen und Kinder erschießen.

Antisemitismus als Sozialneid

Lichtenstaedter selbst wurde im Sommer 1942 nach Theresienstadt gebracht, wo er im Dezember des gleichen Jahres starb. Sein Name dürfte heute kaum jemandem etwas sagen. Das ist bedauerlich, denn der 1865 im mittelfränkischen Beiersdorf als Sohn eines Kaufmanns und Talmudforschers geborene Jurist analysierte in scharfzüngigen Schriften die Ursachen von Hass, Neid und Ressentiment - lauter Affekte, die seitdem leider nicht ausgestorben sind.

Der Historiker Götz Aly hat Auszüge aus Lichtenstaedters Schriften unter dem Titel "Prophet der Vernichtung" in Auszügen neu herausgegeben. Sie stützen die von Aly in Büchern wie "Warum die Deutschen? Warum die Juden?" vertretene These, die zentrale Ursache für den Holocaust sei ein spezifisch deutscher Sozialneid auf die bildungsaffineren Juden gewesen.

Eine Satire auf München

Lichtenstaedter war, nach seinen Schriften zu urteilen, eine eher kantige Persönlichkeit. In den zwanziger Jahren veröffentlichte Lichtenstaedter eine Satire über die München sehr ähnliche Stadt Anthropopolis: Als der Posten des Gerichtsvollziehers mit einem Juden besetzt wird, gerät "dieses Amt zu 100 Prozent in jüdische Hand"! Eine empörte Gegenöffentlichkeit beharrt auf ihr Recht als Mehrheit: "Denn Anthropopolitanien ist ein arischer Staat, ist ein christlicher Staat, ist ein Kulturstaat." Rein deutsche Vereine wie der "Anthropopolitanische Skatklub" formieren sich, um "Skatspiel im anthropopolitanisch-völkischen Geiste und in einer der arischen Rasse würdigen Weise zu pflegen."

1923 hielt Lichtenstaedter für möglich, was zehn Jahre später begann: Dass die Juden in Deutschland "totgeschlagen und ihre Güter den ,Ariern' gegeben" würden. Gleichzeitig beobachtete er, wie - "heimlich ersehnt und schmunzelnd erwähnt" - Vernichtungswünsche gegen die Juden immer populärer wurden.

Lichtenstaedter war eine kantige Persönlichkeit. Obwohl er Vegetarier war, verteidigte er das Schächten gegen Tierschützer, die er für verkappte Antisemiten hielt. Er besaß einen ungewöhnlich weiten Blick: In einem der von Aly veröffentlichten Texte, einem offenen Brief an den britischen Premierminister William Gladstone, erwähnt er das damals kaum beachtete Massaker an den Sioux bei Wounded Knee.

Machtlos gegen das Böse

Vor seiner Karriere in der bayerischen Finanzverwaltung studierte Lichtenstaedter Sprachwissenschaften und Orientalistik. Unter Pseudonymen wie Mehemed Emin Efendi beschäftigte er sich mit dem Zerfall der Türkei mit seinen gefährlichen Folgen für den Balkan und den Nahen Osten. Er warnte schon 1898 vor dem drohenden Völkermord an den Armeniern und sah den 1923 tatsächlich durchgeführten Bevölkerungsaustausch mit Griechenland voraus. Das hat ihm unter Historikern den Ruf eingetragen, ein früher Prophet "ethnischer Säuberungen" gewesen zu sein.

Das ist, wie Aly nachweisen kann, eine selektive Lektüre. Es ist eher so, dass der Pessimist Lichtenstaedter aus der Lebenserfahrung einer doppelten Zurücksetzung als assimilierter Jude und als Homosexueller fürchtete, das "bessere Ich" des Menschen sei machtlos gegen den "primäre Trieb" des Bösen. Dagegen helfe, wie im Fall des deutschen Antisemitismus, die "Einspritzung von, sagen wir, Antistupidinin". Davon enthalten Lichtenstaedters Texte eine ganze Menge. Weshalb es sich lohnt, Alys Auswahl zu lesen.

Siegfried Lichtenstaedter: "Prophet der Vernichtung. Über Volksgeist und Judenhass" (S. Fischer, 288 Seiten, 22 Euro). Götz Aly stellt das Buch am 25. Februar um 19 Uhr in der Foyer-Bar des Literaturhauses vor. Es liest Udo Wachtveitl, Eintritt 12 Euro