"A Million Degrees"

Kruspe und Emigrate: Unverkrampfte Freiheit


Schmale Krawatte, Anzug, Gitarre: Er sieht fast wie aus der frühen Rock'n'Roll-Zeit aus, aber mit Kajal - Richard Z. Kruspe.

Schmale Krawatte, Anzug, Gitarre: Er sieht fast wie aus der frühen Rock'n'Roll-Zeit aus, aber mit Kajal - Richard Z. Kruspe.

Von Guido Verstegen / Online

Emigrate, die Band von Rammstein-Gitarrist Richard Z. Kruspe, präsentiert das Album "A Million Degrees".

München - Rammstein: Das ist dieser ultraharte, ikonische Monolith, der die Musiklandschaft nicht nur in Deutschland geprägt und verändert hat und dessen neues Werk, das 2019 nach gut neunjähriger Schaffenspause erscheinen soll, sehnsüchtig erwartet wird. Wie nur kann man sich aus dem Schatten dieses Monolithen, den man mit seinen prägnanten Riffs ja mitge- und erschaffen hat, befreien?

Rammstein-Gitarrist Richard Z. Kruspe hat dafür seine eigene Band Emigrate gegründet und lässt in unregelmäßigen Abständen immer mal wieder sein Liedgut auf das Fanvolk los. Nach zwei Werken, die auch dank des exzessiven Einsatzes von Gaststars nie wirklich eigenständig wirkten, sondern eher als Versatzstücke rüberkamen, hat Kruspe nun vier Jahre nach dem letzten Dur/Moll-Erguss von Emigrate die Scheibe "A Million Degrees" veröffentlicht.

Rammstein-Gitarrist Kruspe ist mit sich im Reinen

Plötzlich wirkt Kruspe nicht mehr wie einer, der verzweifelt alles versucht, um dem übermächtigen Rammstein-Schatten zu entkommen, sondern wie ein Musiker, der mit sich und den Songs, die in seinem Kopf, seinem Herzen, seiner Seele herumgeistern, vollkommen im Reinen ist. Ein Mann, der weder sich noch den Zuhörern beweisen will und muss, dass er anders ist als seine Hauptband.


Kruspe hat ein fast untrügliches Gespür für Ohrwurm-Melodien. Foto: Bryson Roatch

Die Songs wirken organisch, natürlich, sind gekonnt arrangiert und inszeniert, die Gastsänger passen zu den Songs, bereichern diese und sind nicht mehr nur Namedropping-Staffage. "War" eröffnet die Platte mit sozialkritischen Texten und orientalischem Flair, "1234" schrammelt mit leichtem Rammstein-Zitat ("Mein Teil") massiv groovend daher, und Gast-Vokalist Benjamin Kowalewicz von Billy Talent verpasst dem Song eine frische, rotzige Punk-Attitüde.

Für Kruspe gibt es ein Musikerleben nach Rammstein

Kruspe selber ist als Sänger stark gereift und er hat ein fast untrügliches Gespür für Ohrwurm-Melodien, die sich einer festen Einordnung entziehen. Da trifft sich Rock mit Indie, die beiden schmeißen eine fette Party mit Alternative und Wave - Gothic, Elektro und Punk gesellen sich dann auch noch dazu.

Selbst der Auftritt von Till Lindemann, hauptberuflich Sänger und sprechender R-Roller bei Rammstein, beim Elektro-Song "Let's Go" wirkt nicht wie eine plumpe Anbiederung an die Fans der Rammsteine, sondern wie eine Spielerei, die dem Song dient.

Bei "You Are So Beautiful" grüßt U2 aus jeder Note, das dramatisch inszenierte "We Are Together" offenbart die kompositorische Klasse von Kruspe. "A Million Degrees" zeigt, für Kruspe gibt es ein Musikerleben nicht nur vor, sondern auch neben - und sicher auch nach - Rammstein.

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Emigrate: "A Million Degrees" (Vertigo/Universal)


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