Kultur

Jahrhundertwerk und Leben

Dieter Borchmeyers gewichtige Monographie zu Thomas Mann


Wenige Wochen vor seinem Tod: Thomas Mann mit seiner Ehefrau Katja vor dem Hauptbahnhof in Lübeck am 16.5.1955. Der Schriftsteller kam mit dem Skandinavien-Rom-Express nach Lübeck, wo er am 20. Mai 1955 im Rathaus den Ehrenbürgerbrief seiner Geburtsstadt entgegennahm.

Wenige Wochen vor seinem Tod: Thomas Mann mit seiner Ehefrau Katja vor dem Hauptbahnhof in Lübeck am 16.5.1955. Der Schriftsteller kam mit dem Skandinavien-Rom-Express nach Lübeck, wo er am 20. Mai 1955 im Rathaus den Ehrenbürgerbrief seiner Geburtsstadt entgegennahm.

Von Dirk Heißerer

Thomas Mann ist immer noch medial erstaunlich präsent. Der auf 280 Zeichen beschränkte Twitter-Account "DailyMann" erfährt seit April letzten Jahres mit Sentenzen aus dem Tagebuch lebhaften Zuspruch. Zugleich belegt zur Zeit eine Werkmonographie mit 1550 Seiten Platz 1 der deutschsprachige Sachbuch-Bestenliste! Ihr Autor Dieter Borchmeyer (Jahrgang 1941), Literatur- und Theaterwissenschaftler in München und Heidelberg, ehemaliger Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, hat sich mit Monographien zu Goethe und Schiller, Mozart und Wagner, Nietzsche und Thomas Mann längst einen guten Namen gemacht.

Nach seiner fulminanten Studie "Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst" (2017, 1056 Seiten) lässt er nun mit "Thomas Mann. Werk und Zeit" ein Opus magnum folgen, das es in sich hat.


In 20 Kapiteln durchmisst der Autor das Werk Thomas Manns, von der frühesten Skizze des 18-jährigen in einer Lübecker Schülerzeitschrift bis zur Schiller-Rede des 80-jährigen aus dem Todesjahr 1955. Dabei kommen ihm zwar ältere eigene Studien zugute, doch das Ganze wirkt wie aus einem Guss. Durch Überblicke und Exkurse gehen manche Kapitel weit über die durchschnittlich 75 Seiten hinaus und wachsen sich, wie die zum "Tod in Venedig", zum "Zauberberg", zu den "Joseph"-Romanen oder zum "Doktor Faustus", fast auf das Doppelte aus.

In vehementer Ablehnung biographischer Deutungen zielt Borchmeyer auf die geistesgeschichtliche Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Werke Thomas Manns, der Romane und Erzählungen, aber auch der zahlreichen Aufsätze und Reden. Er will wissen, wo das alles herkam und wo es hinführte: Werkgeschichte als Zeitgeschichte, von der Dekadenz um 1900 zum drohenden Atomkrieg nach 1945.

Pointierte Nacherzählungen leiten über in die Diskussion von Spezialproblemen wie Dilettantismus oder die Rolle von Theater und Film. Auch wenn das Thema Bürger-Künstler oder der Bruderzwist im Hause Mann sattsam bekannt sind, gelingt es Borchmeyer, Thomas Manns Rolle im Ersten Weltkrieg, sein Bekenntnis zur Republik und Demokratie bis zu den Mahnreden an die Deutschen Hörer aus dem Exil im sinnstiftenden Zusammenhang darzustellen.

Beim "Tod in Venedig" ufert die Dionysos-Diskussion etwas aus. Die 130 Seiten zu den "Joseph"-Romanen profitieren vom Kommentar, den Borchmeyer und Jan Assmann für die kommentierte Werkausgabe verfasst haben. Allerdings lässt Borchmeyer in den Ausführungen zur Theologie des "Joseph" offen, ob Abrahams "Entdeckung" Gottes mit dem letzten Wort des Romans nicht doch eher als "Gotteserfindung" zu verstehen ist. Und nur ein Kopfschütteln Borchmeyers gibt es für Thomas Manns Hinwendung in Amerika zur unitarischen Kirche. Auch heikle Themen wie Thomas Manns Verhältnis zum Judentum kommen mehrfach zu Wort.

Solch ein Überblick war bislang nur den beiden Handbüchern zu Thomas Mann möglich. Auf engagierte Weise gibt Borchmeyer eine Antwort auf die Frage, warum uns dieses Werk, diese "von Intellekt, Empathie und Humor gleichermaßen geprägte Darstellung und Reflexion existentieller Grundfragen und erschütternder epochaler Erfahrungen", so unaufhörlich fasziniert.


Humor? Nicht das geringste Verdienst dieses Buches ist es, Thomas Manns Ansatz vom "humoristisch getönten tragischen Roman" "Buddenbrooks" bis zur "religiösen Humoristik" des letzten Romans "Der Erwählte" überzeugend vorzuführen. Der "Zauberberg" war anfangs ganz ähnlich als ein "Satyrspiel und humoristisches Gegenstück" zum "Tod in Venedig" gedacht wie Wagners "Meistersinger" zum "Lohengrin". Dass aber der Tod im "Zauberberg" zur "komischen Figur" gemacht wird und die "Joseph"-Romane zum "humoristischen Menschheitslied auswuchsen", eröffnet neue Perspektiven.

Keinen Humor haben dagegen Diktaturen und Diktatoren, der Zauberkünstler Cipolla der Novelle "Mario und der Zauberer" im faschistischen Italien ist Humorfeind. Und wenn Thomas Mann auf einer "Meerfahrt" nach Amerika Cervantes' "Don Quichotte" den "Schauerromanen des Faschismus" vorzieht, zeigt das, wie gründlich und politisch bewusst hier gelesen wird.

Ausgelassen werden Thomas Manns "Okkulte Erlebnisse" (1922/23), die schon dem Biographen Hermann Kurzke Unbehagen bereiteten. Aber wenn es bei diesem Lebensbuch wirklich etwas zu bemängeln gibt, dann sind es die vielen leeren rechten Seiten, ein nur buchtechnisches Unding, das ab der nächsten Auflage etwa durch schwungvolle Zitate aus Thomas Manns Twitter-Account behoben werden könnte.

Dieter Borchmeyer: "Thomas Mann. Werk und Zeit" (Insel Verlag, 1550 Seiten, 58 Euro)
Buchvorstellung mit Diskussion: Montag, 23. Januar , 19 Uhr im Gemeindesaal der Erlöserkirche, München-Schwabing, Ungererstraße 17, Telefon 54244521