Kultur

"Goethe in Buenos Aires" von Henriette Kaiser

Ein Buch erzählt, wie Geflohene und Gerettete plötzlich wieder den Tätern begegneten


Puppen an einem Tisch des Café Tortoni in Buenos Aires.

Puppen an einem Tisch des Café Tortoni in Buenos Aires.

Von Kathrin Kaiser

Argentinien ist ein Einwanderungsland für Europäer - seit dem 19. Jahrhundert schon. Zu den bizarren historischen Ambivalenzen des Landes zählt es, dass es sowohl während des Dritten Reichs deutsche Juden aufnahm als auch nach dem Zweiten Weltkrieg deutsche Nazis, die vor der Strafverfolgung durch die Alliierten flohen.

Mit ihrem Buch "Goethe in Buenos Aires" gewährt die Journalistin, Filmemacherin und Schriftstellerin Henriette Kaiser lebhafte Einblicke in jüdisch-deutsch-argentinische Lebensgeschichten. 2014 und 2020 hat sie in Buenos Aires Interviews mit deutschstämmigen Juden geführt, die in den 1930er Jahren als Kinder und Jugendliche nach Argentinien kamen.


Kaiser nimmt den Leser mit in die Wohnungen ihrer größten Teils hochbetagten Gesprächspartner. Sie will wissen, wie sie die Flucht erlebt haben, wie die ersten Jahre in Buenos Aires waren und was sie erfahren und gefühlt haben, als nach dem Krieg, deutsche Nazis in Argentinien auftauchten.

Liesel Bein, Gisela Brunnehild, Marion Weiss und Marion Kauffmann etwa berichten, wie sie Argentinierinnen geworden und dabei doch Deutsche geblieben sind. Wie ihre Familien fast an der Flucht zerbrachen und dann doch immer wieder unerwartetes Glück hatten. Wie sie die 1934 in Buenos Aires gegründete Pestalozzischule besuchten und so auch in der deutschen Kultur eine Heimat fanden. Wie sie früh arbeiten mussten, dadurch aber auch schnell in Kontakt zu anderen europäischen Auswanderern kamen. Wie sie in Windeseile Spanisch und andere Fremdsprachen lernten. Die Kinder und Jugendlichen waren in der Regel immer viel schneller im neuen Land und der neuen Sprache angekommen als ihre Eltern. Viele von ihnen - so der Eindruck bei der Lektüre von "Goethe in Buenos Aires" - sind zu hochgebildeten Kulturmenschen mit einer zutiefst humanistischen Grundhaltung herangewachsen. Auf die Frage, was in ihr vorgehe, wenn in Europa über die Einwanderung anderer Emigranten diskutiert werde, antwortet Liesel Bein: "Helfen. Natürlich helfen. Selbstverständlich."

Henriette Kaisers Buch ist eine kraftvolle Ermutigung, nie aufzugeben und sich selbst treu zu bleiben. Ihre Gesprächspartnerinnen (zum größten Teil sind es Frauen, mit denen Kaiser gesprochen hat) erscheinen als Menschen, die gelernt haben Veränderung als Chance zu begreifen.

Marion Kauffmann zum Beispiel, die die längste Zeit ihres Lebens als Journalistin und Übersetzerin tätig war, hat kurz vor ihrem 93. Geburtstag ihr erstes Buch veröffentlicht und zwei Jahre später ihr zweites. Was für eine Botschaft! Solange das Leben nicht zu Ende ist, ist es nie zu spät für neue Projekte.

Ans Ende des Buches stellt Kaiser eine kraftvolle Versöhnungsgeschichte: Die Liebesgeschichte zwischen Renate und Imo Moszkowicz. Sie ist Tochter eines überzeugten Nazis, der nach dem Krieg vor der Justiz der Alliierten nach Buenos Aires floh, und er ist Auschwitz-Überlebender, der seinen jüdischen Vater, der kurz vor dem Krieg vor den Nazi nach Buenos Aires geflüchtet ist, nach Deutschland zurückholen will. Entgegen aller Hindernisse finden diese beiden Menschen zueinander. Sie sind überzeugt davon, dass es keine Rache geben darf, "dass man ein Leben ohne Hass führen muss, weil man sonst nicht frei werden kann."


Kaisers Projekt war anfangs als Dokumentarfilm geplant, zu vielen Gesprächen begleitet sie ein Filmteam. Zu gerne würde man diese faszinierenden Menschen in dem Film sehen, der wohl aus Geldmangel nie fertiggestellt wurde. Das Buch mutet an wie noch nicht ganz fertige Arbeitsskizze. An manchen Stellen wünscht man sich organischere Verbindungen zwischen den Momentaufnahmen.

Das ist aber auch die einzige Kritik, die man an diesem sehr lesenswerten Band üben kann. Henriette Kaiser hat im buchstäblichen Sinne kurz vor knapp - zwei ihrer Gesprächspartner sind kurz nach dem Interview verstorben - ein wichtiges und äußerst spannendes Stück Zeitgeschichte auf lebendige Art und Weise dokumentiert und gleichzeitig eine berührende Liebeserklärung an Argentinien und Buenos Aires geschrieben.

Henriette Kaiser: "Goethe in Buenos Aires" (Faber & Faber, 200 Seiten, 22 Euro)