AZ-Filmkritik

"Die Erscheinung": Ratio gegen Religion


Der Starjournalist (Vincent Lindon, l.) glaubt nicht an Wunder, die ihm der örtliche Priester (Anatole Taubman) gerne glaubhaft machen will.

Der Starjournalist (Vincent Lindon, l.) glaubt nicht an Wunder, die ihm der örtliche Priester (Anatole Taubman) gerne glaubhaft machen will.

Von Selim Aydin

"Die Erscheinung": Ein Thriller um Glaube, Wunder und Wahrheit aus Frankreich.

"Die Kirche zieht es oft vor, ein echtes Phänomen zu übersehen, als einen Betrug aufzudecken". Ein Satz mit Sprengkraft, den der Kriegsreporter einer großen französischen Tageszeitung von einem jungen Priester in den Archiven des Vatikans hört.

Jacques Mayano ist kein gläubiger Mensch. Er muss den Tod seines Freundes und Kollegen in Syrien verkraften und zieht sich von Traumata gejagt aufs Land zurück. Da erreicht ihn ein Anruf aus dem Vatikan. Der Grund wird ihm erst in Rom eröffnet: Der seriöse Journalist soll eine kanonische Untersuchung leiten und herausfinden, was an der Marien-Erscheinung und dem "Wunder" im südlichen Frankreich dran ist. Sitzt die Kirche einer Manipulation auf?

Xavier Giannoli: Der Regisseur für Lügen- und Betrugsgeschichten

Begleitet von Experten und einer Psychiaterin begegnet er vor Ort Tausenden von Pilgern, die verzückt eine Marienstatue anbeten sowie dem örtlichen Pfarrer, der durch Devotionalienverkauf für seine Gemeinde Geld scheffelt und einem deutschen Priester, der sich um die weltweite Vermarktung kümmert.

In all dem Trubel wird die 18-jährige Anna, die behauptet, die "Heilige Jungfrau" gesehen zu haben, zum Spielball unterschiedlicher Interessen. Eine Figur im Wettstreit um Macht und Geld. Lüge und (Selbst)Betrug sind Xavier Giannolis Schlüsselthemen, ob in "Chanson d'amour" , wo ein abgehalfterter Provinzbarde den berühmten Chansonnier markiert, in der Hochstapler-Komödie "Der Retter" oder in "Madame Marguerite oder die Kunst der schiefen Töne" über die selbst ernannte Opernsängerin Florence Foster Jenkins.

Gibt es Wunder?

Die Suche nach Wahrheit inszeniert er hier wie einen Thriller, liefert keine pragmatischen Erklärungen, betrachtet wie unter einem Brennglas mit Unerbittlichkeit und großer Tiefe Fragen nach Mysterien, Zweifel und Glauben.

Mayano will Fakten und Beweise, die Aussage des Mädchens "In Ihnen ist zu viel Wut, um zu verstehen was, ich sah", bringt ihn zur Selbstreflexion.

Spiritualismus und Realismus

Das Spannungsverhältnis zweier verwundeter Seelen aus unterschiedlichen Welten birgt emotionale Höhepunkte. Vincent Lindon ist einzigartig in seiner melancholischen Ambivalenz und seiner Zerrissenheit. Sein Blick voller Schmerz und innerem Widerstreit erzählt von einem Mann, der zu viel gesehen hat im Leben und mit eigenen Dämonen kämpft. Und die junge Italienerin Galatéa Bellugi fasziniert als Wunderseherin durch ihre Überzeugung und ihren Aufopferungswillen, Unschuld und Fragilität, durch leise, aber starke Präsenz.

Ein irritierender und nachdenklich machender Spagat zwischen Spiritualität und Realismus.

Kino: Rio sowie Theatiner (OmU), R: Xavier Giannoli (F, 137 Min.)