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Kurzgeschichte „Final Chords“


Julian ist ein talentierter Pianist.

Julian ist ein talentierter Pianist.

Von Anna Biller

Ich ließ meine Finger über die letzten Tasten des Klaviers gleiten, bevor ich sie endgültig davon entfernte. Auch das Mädchen vor mir war verstummt. Die Menge begann zu applaudieren.

Ich zuckte zusammen. Die Musik verschlang mich jedes Mal und trug mich in meine eigene Welt fort. Deshalb hasste ich den immer sehr langanhaltenden Applaus, der mich beim Kragen packte und in die Realität zurück schleifte. Die Menschen um uns herum jubelten, klatschten und stießen begeisterte Rufe aus.

Die Erinnerungen drohten, wieder die Oberhand zu übernehmen. Der Applaus, für den ich gelebt hatte, bevor das Unvermeidliche passiert war. Ich hörte die aufgeregten Schreie in meinem Kopf. Mit aller Kraft verdrängte ich meine Gedanken. Mir würde so etwas nie wieder passieren. Ich würde mich nie wieder nur der Begeisterung der Menschen widmen. Das hatte ich mir geschworen.

Gerade wollte ich mich heimlich davonstehlen, als sich die Sängerin zu mir umdrehte. Ihre Wangen waren rosa gefärbt, wahrscheinlich aus Erleichterung und Stolz, und ihre blauen Augen blitzten. Sie war so, wie ich es auch mal gewesen war. So glücklich und ganz ohne Angst. Ihr Mund war zu einem Lächeln, nein, zu einem Strahlen verzogen. Ich hob meine Lippen ebenfalls freundlich, senkte dann allerdings schnell wieder das Gesicht.

Gerade, als ich meine Noten packen wollte, spürte ich eine leichte Berührung am Oberarm. Ich schaute auf, um in ihr Gesicht zu blicken. Sie griff nach meiner Hand und zog mich sanft, aber bestimmt hinauf ins Rampenlicht. Oben angekommen verschränkte sie unsere Hände miteinander, und verbeugte sich. Ich ahmte ihr einfach nach, zu benommen und überfordert von der Situation, in die ich gerade geraten war. Das Rauschen in meinen Ohren nahm zu. Das Einzige, was ich wollte, war, so schnell wie nur möglich hier wegzukommen.

Ich hatte die entsetzten Gesichter der Leute ein weiteres Mal vor Augen. Doch durch die Tatsache, dass das Mädchen immer noch meine Hand hielt, war mir das Fliehen nicht möglich. Ich hatte Angst, zusammenzubrechen. Ich spürte, wie ich zu zittern anfing. Sie griff meine Hand noch fester, als wollte sie mir dadurch Kraft geben. Ich spürte ihren Daumen, der kaum merklich über meinen Handrücken strich. Vor und zurück. Vor und zurück. Die routinierten Bewegungen ließen mich etwas entspannen.

Glücklicherweise verebbte der Applaus nach einer Weile und wir konnten uns nun zurückziehen. Hinter der Bühne suchte ich meine Sachen zusammen und streifte meinen Mantel über. Hinter mir fiel etwas zu Boden. Reflexartig drehte ich mich um und entdeckte eine Packung meiner Lieblingsschokolade. Meine Augen scannten die Umgebung, doch es ließ sich keine andere Person ausmachen.

Also hob ich das Päckchen langsam auf und musterte es, ehe ich einen kleinen Zettel bemerkte, der auf der Schokolade klebte. "Danke für deinen Einsatz. Du bist brillant. Gruß, Elodie." Fassungslos starrte ich die niedergeschriebenen Worte an. Mir war sofort klar, wer das geschrieben haben musste. Das Mädchen. Die Sängerin. Und sie hieß Elodie. Trotz der vielen Proben, die wir zusammen absolviert hatten, hatte ich ihren Namen noch nirgendwo aufschnappen können. Gesprochen hatten wir schon die ganze Zeit über nicht miteinander - außer es ging um Dinge, die die Musikstücke betrafen.

Der Name passte zu ihr. Ihre Stimme war für ihr Alter außergewöhnlich reif. Es machte Spaß, ihr zuzuhören und sie dabei anzusehen. Die Emotionen, die auf ihrem Gesicht lagen, während sie sang, brachten mich jedes Mal aufs Neue um den Verstand. Aber woher wusste sie von mir? Ich konnte es mir nicht erklären. Wahrscheinlich war sie neugierig gewesen und hatte bei den anderen nachgefragt, warum ich nur noch für Begleitungen von Sängerinnen und Sängern zur Verfügung stand.

Ich schätzte ihre Geste, trotzdem wunderte ich mich. Normalerweise ignorierten mich die Musiker, mit denen ich arbeitete, vollkommen. Ich konnte ihr Verhalten gut nachvollziehen. Schließlich wollte keiner von sich behaupten, mit einem Mörder befreundet zu sein. Ja, so sahen sie mich. Als einen Mörder. Und ich konnte es ihnen beim besten Willen nicht verübeln.

Ich raffte mich auf, schulterte meinen Rucksack, ließ meinen Blick über den Raum schweifen, um sicherzugehen, dass ich nichts vergessen hatte. Dabei blieben meine Augen am Jackenständer hängen. Elodies Jacke hing noch dort. Sie war also noch nicht verschwunden. "Das kann dir egal sein", flüsterte eine Stimme. Es konnte mir egal sein. Doch ich spürte den Drang, mich bei ihr zu bedanken. Nicht nur für die Schokolade. Sondern auch für ihren Einsatz auf der Bühne. Es tat irgendwie gut, zu wissen, dass nicht alle Musiker einen solchen Hass auf mich haben.

"Bist du noch immer hier?" Eine warme Stimme riss mich aus meinen Überlegungen. Ich erblickte Elodie. Sie trug noch immer das eng anliegende, schwarze Stoffkleid, das ihre Kurven wirklich gut betonte und das sie beim Auftritt getragen hatte. Ihre braunen, schulterlangen Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ich hatte sie bis jetzt mit keiner anderen Frisur herumlaufen sehen.

Ich folgte ihren Augen, die mit einem Lächeln die Schokolade fixierten. "Danke für ... für ... die Schokolade und - naja ... wegen vorhin. Danke, dass du mich mit auf die Bühne gezogen hast." Ich schenkte ihr ein minimales Lächeln, das sie schweigend quittierte. "Warum gehst du nie auf die Bühne, um dir deinen Applaus anzuhören? Du hast fantastisch gespielt." Fragend schaute Elodie mich an. Ich zog eine Augenbraue hoch. Wusste sie etwa nichts von dem Skandal von vor zwei Jahren?

"Wenn ich dir zu nahetrete, tut mir das leid." Elodie war zurückgewichen. Ich bemerkte bestürzt, dass meine Augen nass waren. Ich hatte doch tatsächlich zu weinen begonnen. Und das auch noch vor ihr. Heute war definitiv einer meiner sentimentalen Tage. "Nein, nein, du trittst mir nicht zu nahe. Es wundert mich bloß, dass du das noch nicht weißt. Ich habe es geliebt, aufzutreten und den Applaus in Empfang zu nehmen, der mir danach zustand. Ich war jedes Mal in einem Rausch aus Freude, Stolz, Erleichterung und Aufregung, wenn ich in die Gesichter der Menschen blickte, die mir zugejubelt haben. Wir sind immer zu zweit aufgetreten. Meine Schwester und ich." Die Erinnerung an meine Schwester ließ mich schwindelig werden. Ich stützte mich an einem Holzpfahl neben mir ab.

"Vielleicht setzen wir uns besser", hörte ich dumpf die Stimme Elodies. Sie kam auf mich zu und nahm meinen Arm. Wir setzten uns auf eine Bank. Elodie berührte, wie vorhin auf der Bühne, meinen Handrücken mit ihrem Daumen, allerdings wesentlich vorsichtiger. In mir keimte wieder etwas Mut auf, die Sache preiszugeben. Mir fiel auf, dass es sehr viel schwieriger war, selbst von meiner Schwester zu erzählen. Früher hatten das immer die anderen für mich erledigt.

Ich holte tief Luft, um Kraft zu schöpfen. "Meine Schwester war eine Violinistin. Sie hat im ersten Semester studiert und war ein wahres Wunderkind. Sie hat ihr Instrument geliebt. Ich war damals achtzehn und hatte gerade mein Abi gemacht. Sie war neunzehn, fast zwanzig. Lotta war immer mein Vorbild. Wir sind schon länger gemeinsam auf Hochzeiten, Partys oder Veranstaltungen aufgetreten, haben aber auch Konzerte gegeben. Meine Schwester war, seit ich denken konnte, an Diabetes erkrankt. Sie hat sich nie von ihrer Krankheit einschränken lassen, hat immer weiter gemacht.

Es war mal wieder einer dieser Abende, ein Konzert war vorbei und die Leute fasziniert. Wir haben viele Zugaben gespielt. Es war perfekt. Lotta ging es schon den ganzen Tag nicht gut. Sie war andauernd müde, aber ich ... ich habe sie dazu überredet, trotzdem zu spielen. Sie hat ihre Geige weggelegt, während ich schon nach vorne gegangen bin, um den Beifall der Zuschauer in Empfang zu nehmen." Ich stockte, meine Stimme versagte. Ich mühte mich, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Es gelang nicht. Natürlich. Elodie drückte mitfühlend meine Hand.

"Plötzlich habe ich entsetzte Schreie gehört. Die Stimmung ist gekippt. Ich habe es in den ersten Minuten nicht bemerkt, ich dachte, es wären Schreie der Begeisterung. Doch dann habe ich mich umgedreht und meine Schwester ... sie lag reglos am Boden. Ich bin sofort hingerannt, aber ihr Atem ging nur noch flach. Ich wurde weggeschubst. Ich denke, es waren Ärzte oder die Security. Ich habe an ihrem Kleid gezerrt. Ich wollte nicht von ihr weg. Ich habe geschrien und um mich getreten. Ich hätte ruhig bleiben sollen, aber in dem Moment hat mein Verstand ausgesetzt. Mir wurden Beruhigungsmittel verabreicht.

Meine Schwester hatte sich in den letzten Tagen kein Insulin mehr gespritzt. Ihr Blutzuckerspiegel war deshalb viel zu hoch. Man konnte sie nicht mehr retten. Sie ist gestorben, weil ich sie zum Konzert überredet hatte, obwohl mir vollkommen bewusst war, dass es ihr nicht gut ging. Ich habe nicht bemerkt, als die Menschen mir zugeschrien haben, dass sie Hilfe braucht. Vielleicht hätte ich sie noch retten können, wenn ich es früher gemerkt hätte.

Eine lange Zeit habe ich mich aus der Branche zurückgezogen. Jetzt studiere ich zwar, aber ich will trotzdem nie wieder riskieren, dass jemand meinetwegen in Gefahr gerät. Ich habe das Rampenlicht so gut es ging gemieden, bis jetzt. Es erinnert mich zu sehr an sie. An Lotta. Ich habe sie umgebracht, ich habe ihre Karriere ruiniert. Viele andere Musiker werfen mir vor, ich wollte meine Schwester aus dem Weg schaffen, damit ich ihren Platz einnehmen kann. Sie hassen mich."

Ich hielt den Kopf gesenkt, damit ich Elodies Gesicht nicht sehen musste. Die Abscheu, die nun darin liegen würde. Ich schämte mich. Als mir jedoch auffiel, dass sie immer noch meine Hand hielt, versuchte ich, sie schnellstmöglich wegzuziehen. Es gelang mir nicht. "Es ist nicht dein Fehler", flüsterte sie, "es ist nicht dein Fehler. Lotta hätte sicher nicht gewollt, dass du alles aufgibst, Julian."

Ich schaute auf. Sie kannte meinen Namen. Elodie hielt mir ein Taschentuch hin und als ich es ihr nicht abnahm, hielt sie mein Kinn höher und tupfte mir die Tränen vom Gesicht. Dabei streichelte ihr Daumen über meine Wange. Wie in Trance legte ich meine eigene Hand auf ihre Finger. Sie hielt inne. "Du weißt gar nicht, wie sehr du mir heute geholfen hast, Elodie", flüsterte ich mit bebender Stimme. Sie lächelte mich an, verspielt und schüchtern. Ich senkte meinen Kopf, sodass unsere Lippen nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Bevor ich auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte, legte Elodie ihre Lippen auf meine.

In mir explodierte kein Feuerwerk, ich spürte kein Kribbeln in meinem Bauch. Mir wurde auch nicht schlagartig heiß. Ich fühlte nur, dass etwas in mir schwand. Die Betäubung. Ich fühlte keine Betäubung mehr. Ich konnte wieder etwas spüren. Ich wusste, dass ich Elodie einiges zu verdanken hatte. Sie hatte mir meine Gefühle wieder geschenkt. Sie hatte mir zugehört. Sie war da gewesen, als ich es gebraucht hatte.

Hinweis: Dieser Text stammt aus der Freistunde, der Kinder-, Jugend- und Schulredaktion der Mediengruppe Attenkofer. Für die Freistunde schreiben auch LeserInnen, die Freischreiben-AutorInnen. Mehr zur Freistunde unter freistunde.de.