Ich weiß noch, als ich mitten in meinen besten Jahren, so mit Anfang dreißig, mein Haus zu renovieren begann. Es war ein sonniger, wolkenloser Tag, die ersten frühlingshaften Temperaturen wärmten und ich stürzte mich Hals über Kopf in den Umbau. Es fing alles damit an, dass ich den Dachstuhl abbaute und einen weiteren Stock aufmauerte, nur um ihm dann eine hölzerne Haube aufzusetzen. Dabei verging ein Jahr. Ich war mit dem Umbau nicht allein, mir schlossen sich damals mein jüngerer Bruder und zwei Bekannte an. Es war eine schöne Zeit, die mit viel Muskelkraft und diversen Überlegungen über die weiteren Schritte vollgepackt war.
Freischreiben Kurzgeschichte: Erinnerungen eines alten Mannes
Noch schöner wurde es, als ich meine zukünftige Frau kennenlernte. Es nieselte draußen, Motivation zum Arbeiten hatte ich abends nicht mehr, sodass ich eine örtliche Gaststätte besuchte. Ich genoss es schon immer, allein zu sein, niemand stört und niemand will dir etwas aufreden. Es tut gut, die Seele ab und zu baumeln zu lassen. Vor der Tür sah ich eine junge Frau, der Tränen über die Wangen liefen. Normalerweise lassen mich Gefühlsausbrüche von anderen kalt, doch irgendetwas bewog mich dazu, ihr eine Zigarette anzubieten. Es war nur als kleine Geste der Höflichkeit gemeint, doch sie lächelte mich unter Tränen an und meinte: „Genau das brauche ich gerade.“ So standen wir nebeneinander und teilten einen Moment der Stille. Als ich mich Richtung Tür umdrehte, um mein Abendessen zu bestellen, kam die junge Frau mit mir mit, sie gesellte sich an meinen Tisch.
Ohne Aufforderung begann sie, mir ihr Leid zu erzählen. Ihr Verlobter hat sie sitzen gelassen. Nun gut, das passiert öfters. Natürlich sagte ich ihr das nicht ins Gesicht, aber dieser Gedanke prägte sich in meinen Kopf ein. Es zeigte, wie empathielos ich manchmal sein konnte. Und warum ich es bevorzugte, allein zu leben. Verletzte Gefühle brauche ich nicht. Ich möchte einfach in meinem Haus in Ruhe alt werden. Störaspekte sind nicht erwünscht.
Doch die junge Frau, die sich als Johanna vorstellte, erweckte etwas in mir, das ich mir nie vorgestellt habe, zu besitzen. Interesse. Neugierde für einen anderen Menschen. Sie erzählte von ihrem Beruf Näherin, welche Stücke sie bereits privat angefertigt hat und was sie noch alles machen möchte. Die Leidenschaft in ihren Augen zeugte davon, dass sie das tut, was sie liebt. Ich selbst bin unter der Woche bei einer örtlichen Baufirma beschäftigt. In den darauffolgenden Wochen lernten wir uns immer besser kennen, trafen uns zum Essen, gingen am örtlichen See spazieren und genossen die ersten warmen Temperaturen. Nebenbei ging es beim Hausbau weiter, langsam nahm es Formen an.
Die Zeit verging, wir gründeten eine Familie, sahen den Kindern beim Wachsen zu, wir selbst bekamen graue Haare und Falten, die Arbeit ging nicht mehr so leicht. Wir durchlebten schwere und gute Zeiten, sowohl finanziell als auch in der Partnerschaft. Besonders blieb mir dabei ein großer Vertrauensbruch in Erinnerung, den ich am liebsten für immer verdrängen möchte. Es war ein Schicksalsschlag, dem man niemand anderen wünscht ...“
„Papa, erzähl doch weiter! Wir möchten wissen, was damals passiert ist. Du kannst uns doch jetzt nicht einfach in der Luft hängen lassen!“
Ich blicke zu den fremden Gestalten auf. Warum nennen sie mich „Papa“? Bin ich deren Vater? Ich bin mir nicht sicher, verwirrt blicke ich umher. Ich sitze im Garten, wo genau weiß ich nicht. Die Umgebung kommt mir vertraut vor. Seltsam.
„Es scheint, als wäre er wieder abgeschweift. Seine Vergesslichkeit wird von Besuch zu Besuch schlimmer“, sagt die junge Frau vor mir. Insgesamt stehen drei Personen vor mir. Zwei Frauen und ein Mann. Sie alle sehen jemandem ähnlich, nur weiß ich nicht, wem. Ich denke nach, doch da ist nichts.
„Papa, weißt du, wer wir sind?“ Nein, das weiß ich nicht. Mein Kopf bewegt sich verneinend. Worte wollen mir nicht von der Zunge gehen. Ich weiß, dass etwas an dieser ganzen Situation nicht stimmt.
„Komm, wir gehen wieder auf dein Zimmer“, und schon werde ich unter meinem rechten Arm gepackt und aus meiner sitzenden Position nach oben gezogen. Nach ein paar Minuten kommen wir an einem Zimmer an. An der Tür ist ein Haus abgebildet. Es ist schön, fast wünschte ich mir, es wäre meins. Auch ein Vorname steht drauf. Peter.
Die drei Erwachsenen verabschieden sich von mir, sodass ich allein im Zimmer verbleibe. Draußen höre ich wieder die junge Frau „Schade, dass er uns nicht mehr erkannt hat. Beim letzten Besuch war es noch besser. Mich nimmt das mit. Das ganze Leben kennt man eine Person, ist mit ihr aufgewachsen und in ein paar Augenblicken ist man nur noch ein Fremder. Es ist traurig.“
Fast tut es mir leid, dass ich sie nicht kenne. Leider ist meine Verwirrtheit viel zu groß. Was mache ich überhaupt in diesem Zimmer? Hatte ich nicht ein Haus? Ich mache mich auf die Suche nach meiner Heimat, meinem Haus.

Hinweis: Dieser Text stammt aus der Freistunde, der Kinder-, Jugend- und Schulredaktion der Mediengruppe Attenkofer. Für die Freistunde schreiben auch LeserInnen, die Freischreiben-AutorInnen. Mehr zur Freistunde unter freistunde.de.
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