Magersucht

Beste Freundin, schlimmster Feind


Von Redaktion idowa

Passend zum Titelthema des zehnten Freistunde-Magazins fanden wir in der Schülerzeitung VäHiG vom Veit-Höser-Gymnasium in Bogen einen Artikel einer ehemaligen Magersüchtigen. Sie teilt darin mit, wie ein Leben mit Magersucht sein kann.


Was denkt ihr, ist die schlimmste Krankheit der Welt? Krebs? AIDS?
Die Pest vielleicht, die in früheren Zeiten Millionen von Menschen dahingerafft hat oder die Cholera, die seit kurzem in Haiti wütet?

Nein, die schlimmste Krankheit der Welt ist jene Krankheit, die den schönen Namen "Anorexia nervosa" trägt: Magersucht.

Wir können nicht einfach wieder normal essen

Aber warum sollte Magersucht schlimmer sein als z.B. Krebs?
Schließlich könnten wir Betroffenen doch jederzeit wieder anfangen, normal zu essen, oder nicht?
Genau hier liegt das Problem. Wir könnten. Aber wir können es nicht.
Und je tiefer wir in der Krankheit gefangen sind, desto schwieriger wird es, einen Weg hinaus zu finden.
Dazu kommt, dass wir uns nach einer Weile - anders als bei jeder anderen Krankheit - schuldig fühlen, denn eigentlich wäre es ja so einfach, dagegen vorzugehen. Man müsste ja bloß wieder normal essen.
Außerdem ziehen wir, wenn auch unfreiwillig, viele Menschen mit in die Krankheit hinein. Familie, Freunde, Angehörige - sie alle leiden genauso an unserer Essstörung wie wir selbst.
Dabei wollen wir perfekt sein! Wir streben nach etwas, das es gar nicht gibt: Perfektion. Wir wollen doch nicht, dass irgendjemand wegen uns leidet. Das sind wir doch überhaupt nicht wert

Wir verhungern vor gefüllten Kühlschränken

Könnt ihr euch vorstellen, wie es für Eltern ist, wenn die eigene Tochter sich vor ihren Augen halb zu Tode hungert?
Und das hier, in der westlichen Welt, wo wir im Überfluss leben!
Wir Magersüchtigen verhungern vor gefüllten Kühlschränken und vollen Supermarktregalen, während eine Milliarde Menschen auf der Welt hungern, weil sie nichts zu essen haben und Tausende von ihnen täglich an ihrem Hunger sterben.
Noch ein Grund mehr, sich schuldig zu fühlen.

Aber warum ist es denn dann so schwierig, einfach aufzuhören? Wo diese Krankheit doch eigentlich nur Nachteile hat?
Wie der Name schon sagt, ist die Magersucht eine Sucht. Das Charakteristische einer Sucht ist, dass man von etwas abhängig wird, das einen über kurz oder lang zerstört.
Wir Magersüchtigen sind süchtig nach etwas, das nur schwer zu begreifen ist und sicherlich tiefere Gründe hat, als die, die äußerlich sichtbar werden.
Es geht nicht einfach nur darum, abzunehmen. Es geht um die Sucht nach einem Gefühl. Einem euphorischen, schnelllebigen, skurrilen Erfolgserlebnis, das wir haben, wenn wir unsere Knochen spüren, direkt unter der Haut. Wenn die Zahl auf der Waage wieder kleiner geworden ist. Und wenn es nur ein paar hundert Gramm sind. Umgekehrt können uns schon 100 Gramm mehr völlig aus der Bahn werfen. Und wir bestrafen uns damit, noch weniger zu essen.
Wir sind süchtig nach dem röhrenden Hungergefühl. Nach der Leere unseres Magens, die wir spüren, wenn kaltes Wasser hineinfließt. Wobei wir jedoch auch immer weniger trinken, denn auch die Zufuhr von Wasser führt logischerweise zu einer Gewichtszunahme, obwohl es natürlich nur das Eigengewicht der Flüssigkeit ist und keinerlei Fett. Aber die Magersucht hat ihre ganz eigene Logik, die kein Außenstehender wirklich nachvollziehen kann.

Es dauert lange, bis man bereit ist, zu kämpfen


Ich habe vor acht Jahren angefangen, meinen Körper kaputt zu machen, meine Jugend zu verschwenden und die Beziehungen zu meinen Mitmenschen auf eine harte Probe zu stellen.
Ich habe zwei Klinikaufenthalte hinter mir, die mir nicht geholfen haben, genauso wenig wie die Sitzungen bei verschiedenen Psychiatern.
Es ist wichtig, als Außenstehender einzugreifen und vielleicht wäre ich gestorben, wenn es niemand getan hätte.
Doch effektive Hilfe ist nur möglich, wenn wir Betroffenen wirklich und aus tiefstem Herzen gegen unsere Krankheit vorgehen wollen.
Das wollen jedoch die wenigsten, auch wenn sie das selbst vielleicht nicht wahrhaben möchten und sich etwas anderes einreden. Es kann sehr lange dauern, bis man wirklich bereit ist, zu kämpfen und oftmals ist es dann schon zu spät.

Aber warum können wir einfach nicht loslassen? Auch wenn wir längst erkannt haben, dass unsere Krankheit uns kaputt macht?
Wir haben Angst, uns zu verlieren. Was bleibt von uns übrig, wenn wir die Magersucht aufgeben?
Ich weiß, dass ich nie wieder so werde sein können wie damals, bevor ich sie kennenlernte. Meine beste Freundin. Meinen schlimmsten Feind.
Denn damals war ich noch ein unschuldiges Kind.

Die Gedanken bleiben für immer

Irgendwann habe ich aufgehört, mich zu wiegen. Aber Magersucht ist nicht nur eine Frage des Gewichts. Die Gedanken bleiben für immer.

Könnt ihr euch vorstellen, wie es ist, jeden Tag im Krieg zu sein? Jeden Tag kämpfen zu müssen, gegen etwas, das sich einst in euch eingenistet hat wie ein Parasit und das bereits zu einem nicht mehr wegzudenkenden Teil von euch geworden ist?
Könnt ihr euch vorstellen, wie es ist, wenn jede einzelne Mahlzeit zu einer Schlacht wird in diesem immerwährenden Krieg?
Könnt ihr das auch nur ansatzweise? Ja?
Willkommen in meinem Leben.