Bayern

"Vom Glück, überlebt zu haben"

Acht Monate verbringt der Autor Tim Pröse für ein Buch mit einem Überlebenden von Stalingrad. Dieser erzählt ihm vom Krieg, deutscher Schuld und seiner großen Liebe zur Stadt München.


Auf dem Balkon seiner Seniorenresidenz.

Auf dem Balkon seiner Seniorenresidenz.

Von Paul Nöllke

München - Kaum 20 Jahre alt ist Hans-Erdmann Schönbeck, als er als Leutnant in den Krieg nach Stalingrad geschickt wird. Viel erzählt hat er von dieser traumatischen Zeit nicht - nicht seinen Kindern, auch nicht seinen Enkeln.

Doch nun hat er zusammen mit dem Autoren und ehemaligen AZ-Chefreporter Tim Pröse beschlossen, seine Geschichte in einem Buch zu erzählen. Es geht um die Erlebnisse in Stalingrad, seinen Widerstand gegen Hitler, wie er neben Stauffenbergs Bombe schlief, um Schuld und Glück aber auch um seine große Liebe zu München. Im AZ-Interview berichtet Pröse von seiner Beziehung zu Schönbeck und wie dieses besondere Buchprojekt fast nie zustande gekommen wäre.

AZ: Herr Pröse, Sie haben den Stalingrad-Überlebenden Hans-Erdmann Schönbeck aus München über ein halbes Jahr begleitet, um sein Leben aufzuschreiben. Er erzählte Ihnen Dinge, die er noch nie jemandem erzählt hat. Wie haben Sie Ihren Protagonisten überhaupt gefunden?

Im Gespräch mit Autor Tim Pröse.

Im Gespräch mit Autor Tim Pröse.

TIM PRÖSE: Vor sieben Jahren entdeckte ich ihn für eine Reportage. Er war damals schon einer der letzten noch lebendenden Veteranen. Ich erlebte ihn als einen beeindruckenden Menschen voller Lebensfreude und besuchte ihn immer wieder im Augustinum München-Neufriedenheim. Bei meinem Besuch vor drei Jahren hat Herr Schönbeck sich dann aber von mir verabschiedet …

Verabschiedet? Inwiefern?

Er hat mir gesagt, dass wir uns wohl nicht mehr wiedersehen würden. Es ging ihm sehr schlecht, er war sich ganz sicher, dass wir voneinander Abschied nehmen müssen.

Doch er ist dann nicht gestorben.

Ostern 2021 bekam ich dann plötzlich wieder einen Anruf von ihm: Er lebt! Da war mir klar, dass wir jetzt sein Leben aufschreiben müssen!

Sie haben für die AZ, aber auch den "Spiegel" schon häufiger über die NS-Zeit geschrieben. Wie kamen Sie überhaupt zu diesen Themen?

Diese Zeit beschäftigt mich schon lange. Als ich in den 90ern aus dem Ruhrgebiet nach München kam, um bei der AZ mein Volontariat zu beginnen, spürte ich schnell, dass sich München, die alte "Hauptstadt der Bewegung" auf wunderbare Weise seiner Vergangenheit stellt. Dass sie eben nicht die Stadt Hitlers, sondern die Stadt der Weißen Rose ist und der von Sophie Scholl!

Über die Sie auch geschrieben haben?

Ja, während meiner Zeit bei der AZ durfte ich einen Schatz heben: Sophie Scholls Schwester Inge überlies mir bis dato völlig unbekannte Erinnerungen an ihre Schwester, in denen sie die letzten Tage ihrer geliebten Schwester in München bis zu ihrer Hinrichtung beschreibt. Mit diesem Thema, einer "Hommage an Sophie Scholl" bin ich bis heute auf Lesereise durchs ganze Land und habe etwa 100 Schulen besucht. Es ist wichtig, solche Geschichten zu erzählen und weiterzugeben, und mit ihnen die Zeit anzuhalten.

Was ist an Schönbecks Geschichte erzählenswert?

Er war einer der letzten Soldaten, die mit einem der letzten Flieger aus Stalingrad gerettet wurden. Und ist heute einer der letzten, vielleicht sogar der Einzige, der noch am Leben ist. An seinem letzten Tag in der Eiswüste von Stalingrad war er schwer verletzt und erblindet. Ein Kamerad hatte ihm schon eine Pistole gegeben, um sich selbst erschießen zu können, weil die Russen in zwei Stunden bei ihm gewesen wären.

Und dann?

Dann landete plötzlich ein Flugzeug neben dem Erdloch, in dem er lag. Ein Stabsfeldwebel, der selbst zurückbleiben musste, hievte ihn ins Flugzeug. Die Erinnerung und die Dankbarkeit für diesen Mann ließ Schönbeck nie los - bis heute.

Was passierte Schönbeck nach seiner Evakuierung?

Er kam erst kurz in Kriegsgefangenschaft - und dann nach München. Er wurde von den Amerikanern 1945 mitten auf dem Stachus in zerrissener Uniform aus einem Jeep geschmissen. Und hier ist er geblieben! Heute - fast 80 Jahre später - lebt er immer noch in München, in der gleichen Seniorenresidenz, in der auch Hans-Jochen Vogel lebte. Wenn er aus seiner Wohnung im elften Stock auf den Schnee der Alpenkette sieht und über sich immer mal wieder die Kondensstreifen der Flugzeuge erblickt, denkt er manchmal immer noch an Stalingrad. Sogar im wunderschönen München, das immer gut zu ihm war, ist Stalingrad in seinen Gedanken geblieben. Von seinem Küchenfenster aus sieht er das BMW-Hochhaus, in dem er lange gearbeitet hat.

Er kam von Stalingrad nach München und zu BMW?

Ja, er war lange im Vorstand, später im Aufsichtsrat. Der ehemalige BMW-Chef Krüger hat ihn früher immer mal wieder aus dem Augustinum abholen lassen. Dann haben sie sich zum Tee getroffen. Und Schönbeck saß da, mit seinen 96 Jahren und hat gesagt, was er so über BMW denkt.

Hat er jemals jemandem anderen von seinen Erlebnissen in Stalingrad erzählt?

Immer nur selten. Er hat sogar seinen Kindern oder seinen Enkeln erstaunlich wenig davon erzählt, meine eigenen Großväter und so viele andere haben das aber auch nicht getan.

Weshalb?

Das war so in dieser Generation. Nun aber bewegten mich seine Erinnerungen und sein Nachdenken über das, was war. Wer das Buch "…und nie kann ich vergessen" liest, wird erahnen können, was diese Männer dort gefühlt haben. Und Schönbeck kann man dafür bewundern, wie wundersam er überlebt hat und vor allem, wie sein Widerstand gegen Hitler immer stärker wurde. Nach Stalingrad wurde er ins Oberkommando des Heeres befehligt und war dort ein Freund der Hitler-Attentäter des 20. Juli. Wochenlang schlief er neben Stauffenbergs Bombe. Außerdem ist er ein feiner Mensch, ein echter Herr und auf eine gewisse Art das, was man einen Wunsch-Großvater nennen kann.

Zumindest einmal teilte er seine Erinnerungen aber.

Ja, er war Berater bei Joseph Vilsmaiers Film über Stalingrad. Da hatte er in der Abendzeitung gelesen, dass der Film gedreht werden soll - und hat einfach Vilsmaier angerufen und seine Hilfe angeboten. Das hat Vilsmaier sofort angenommen. Schönbeck war dann auch beim Dreh dabei.

Nun war der Krieg in Stalingrad ja ein Angriffskrieg …

... ein brutaler Vernichtungskrieg! Und dessen ist sich Schönbeck auch bewusst. Er weiß um seine Schuld und Verantwortung. Ich glaube, dass er - so gut das eben ging - damals anständig geblieben ist. Aber das Buch über ihn verherrlicht und beschönigt nichts. Es ist ein Buch über Leben und Tod, Trauer und Hoffnung - und vor allem eines über das Glück, zu überleben!