Wider dem Missbrauch

Landshuter Kinderschutzprojekt macht Schule

Die Kinderklinik Sankt Marien setzt Maßstäbe für die Untersuchung missbrauchter Kinder


Missbrauch hinterlässt an Körper und Seele von Kindern deutliche und eindeutige Spuren.

Missbrauch hinterlässt an Körper und Seele von Kindern deutliche und eindeutige Spuren.

Landshut ist Zentrum des medizinischen Kinderschutzes. Dabei handelt es sich um ein medizinisches Fachgebiet in der Entwicklungsphase. Mit Ergebnissen aus einem heuer endenden Projekt an der Kinderklinik Sankt Marien setzt das Haus Maßstäbe dafür. In den Untersuchungen der vergangenen zwei Jahre ging es darum, das Vorliegen von Missbrauch zu klären - und wie betroffenen Kindern am besten zu helfen ist. Gewonnene Erkenntnisse finden mittlerweile bayernweit Anklang.

Das projektfördernde, bayerische Sozialministerium erhofft sich vom landesweiten Projekt in Landshut "wichtige Erkenntnisse im Hinblick auf die Etablierung von Kinderschutzgruppen an Kinderkliniken", so eine Sprecherin des Ministeriums. Jenseits der Linie Regensburg-Landshut-Augsburg-Passau sind solche Gruppen - wie allerdings auch Kinderkliniken - nicht auszumachen.

1.699 Fälle von Kindesmissbrauch

Dabei zählt die Polizei in Bayern vergangenes Jahr 1.699 Fälle von Kindesmissbrauch. Das geht aus der jüngsten Polizeistatistik hervor.

In der Oberpfalz sind die Zahlen von Kindesmisshandlung seit 2015 rückläufig. Zählte die Polizei damals noch 36 Fälle, sind es letztes Jahr 23 gewesen. Für 2020 wird der Trend ähnlich der Vorjahre sein, lässt eine Sprecherin wissen.

Ihre Kollegin des Polizeipräsidiums Niederbayern zählen 2019 301 Fälle von Gewalt gegen Kinder. Die Zahlen schwanken in den letzten Jahren zwischen 301 und 351 Fällen, 2020 gehen auch die Niederbayern von einem weiteren Rückgang aus.

Im Landkreis Regen prüfte die Behörde 2019 in 39 Familien, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Bis Stichtag 19. August 2020 tat sie es in 16 Familien.

141 Mitteilungen auf Kindeswohlgefährdungen gingen 2019 an das Landratsamt Cham. Meist meldeten Polizei, Schule, Kindergarten, Nachbarn und Familienangehörige dies. Was und ob etwas dahintersteckt, überprüfte das Jugendamt.

Viermal setzte die Chamer Behörde auf die medizinische Expertise der bayerischen Kinderschutzambulanz in München für die Klärung und entschieden dann über das weitere Vorgehen. Die Zusammenarbeit funktioniere reibungslos, weshalb vor Ort keine Kinderschutzambulanz nötig sei.

Am Chamer Landratsamt ist man der Auffassung, dass dies angesichts der Fallzahlen weder nötig noch möglich und finanzierbar sei. "Für uns ist München ok", heißt es aus Regen. Das Landratsamt und seine Netzwerkpartner hätten schließlich die Möglichkeit, sich über den Onlinedienst der Kinderschutzambulanz beraten und unterstützen zu lassen.

Geschultes Personal hilft bei Missbrauchserkennung

Pia Manjgo findet: "Es ist extrem wichtig, dass Kliniken Kinderschutzgruppen haben." Manjgo ist seit 2016 im Beirat der deutschen Gesellschaft für Kinderschutz in der Medizin (DGKiM) und Kinderschutzmedizinerin. Sie hat bei einem in Landshut durchgeführten Modellprojekt mitgewirkt, das Daten für die landesweite Arbeit von und mit Kinderschutzgruppen liefert.

Die Kinderschutzgruppe unterhalb der Burg Trausnitz am Hofberg setzt sich zusammen aus Medizinern, Sozialpädagogen, Psychologen und und speziell geschulten Pflegekräften. Fachgebietsübergreifend werden sie tätig, wenn bei einem Kind Verdacht auf Missbrauch besteht, erläutert Manjgo. Die Kinderschutzgruppe steht in Gefährdungsfällen in engem, strukturierten Austausch mit Jugendämtern und anderen Organisationen wie Beratungsstellen und auch Kinderschutzvereinen.

Sie beschreibt den in Landshut erprobten Ablauf: Ärzte untersuchen die jungen Patienten zunächst auf körperliche Verletzungen. Geschultes Personal erkennt an der Form der Verletzung und an weiteren Aspekten, ob es sich dabei um eine Missbrauchsverletzung handelt oder nicht. Psychologen und Pädagogen untersuchen die seelische Verfassung des Kindes. In Gesprächen überprüfen sie, ob Erzählung der Beteiligten und Verletzungen zusammenpassen.

In der Regel lässt sich nach zwei oder drei Tagen stationärer Untersuchung Klarheit über die Herkunft einer Verletzung schaffen. Stellt sich heraus, dass das Kind tatsächlich ein Gewaltopfer ist, folgen weitere Schritte. Die Organisationsstruktur in Kinderschutzgruppen mit Schnittstelle zur Jugendschutzbehörde ermöglicht dies umgehend.

"Das Herauslösen der Kinder aus der Familie ist allerdings der letzte Schritt", betont Manjgo. Viele Eltern wollten keine schlechten Erzieher sein. Manchmal sind sie schlicht überfordert und reagieren unangemessen. Sie wollen aber an sich arbeiten und dann hilft ihnen das Jugendamt mit Erziehungsbeistandschaft oder es schaut eine Kinderkrankenschwester vorbei.

Die kümmert sich mit den Eltern um die kindgerechte Versorgung des Nachwuchses und leitet sie an. Zusammen mit engmaschigen, körperlichen Untersuchungen ist der Schutz des Kindes weiterhin gewährleistet, erläutert die Ärztin.

Behörden aus den Städten entlang der A 92 wie Landshut, Erding, Deggendorf und München verlassen sich auf die Landshuter Expertise. Manjgos Team überprüfte während des Projektzeitraums jedes Jahr gut 100 Fälle. In Corona-Zeiten ebbten diese etwas ab, nachdem das öffentliche Leben wieder Fahrt aufnehme, steigen die Zahlen aber wieder. "Heuer wird das eher mehr", meint Manjgo.

Umso wichtiger sind die Ergebnisse des Projekts. Sie legen nahe: Fachkompetenz ist zum Erkennen von Missbrauch nur ein wichtiger Part. Entscheidend ist auch die Zeit, die sich Mitarbeiter der Kinderschutzgruppen nehmen können. Im Rahmen des Projektes gibt es dafür extra bezahlte Stundenkontingente. Diese ermöglichen es Manjgo und ihrem Team, sich voll und ganz auf diese eine zusätzliche Aufgaben zu konzentrieren - für exaktes Bearbeiten der Fälle unbedingt notwendig.

15 Kliniken orientieren sich schon an Landshut

Dabei stellt sich die Frage der Finanzierung: Schon in Landshut war das nicht so einfach zu klären. Das Sozialministerium war so sehr von der Sache überzeugt und übernahm die Kosten. Schule macht die Landshuter Idee jedenfalls schon.

15 Kliniken in Bayern orientieren sich einer Erhebung von 2019 zufolge schon an in Landshut erarbeiteten Standards - und es werden immer mehr. Manjgo: "Also tut sich schon was, aber es ist noch viel zu tun."

Dr. Franz Hench, leitender Oberarzt der KJPP.

Dr. Franz Hench, leitender Oberarzt der KJPP.

"Gute Pädophilie" gibt es nicht

Christoph Metzelder ist in den Fokus der Ermittler geraten. Der Fußball-Weltmeister soll kinderpornografisches Material besessen haben. Ob er tatsächlich dessen schuldig ist, müssen allerdings noch die Gerichte klären. Fakt ist allerdings: Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen, gibt es. Schlagzeilen in jüngster Zeit machte unter anderem auch der Fall des Missbrauchskomplex von Bergisch Gladbach.

Der Blick in einschlägige Foren dort lässt einem - gelinde gesagt - das Blut in den Adern gefrieren. Die Spielarten, mit denen sich erwachsene Männer und Frauen an Kindern vergehen, kennen keine Grenzen. Sowohl was die Brutalität als auch das Alter der Opfer angeht. Schreiende Säuglinge, weinende Kinder, teilnahmslose Jugendliche als Teil perverser Fantasien.

Die Täter bannen sie auf Zelluloid, andere Nutzer applaudieren und rufen virtuell nach Zugaben. In ihrem Wahn glauben Produzenten und Konsumenten, zu erkennen, die Missbrauchten empfänden tatsächlich Lust dabei. Ein Irrglaube.

"Die gute Pädophilie" ist nur deren eigene Erfindung, stellt Franz Hench klar. Er ist Leitender Oberarzt des Zentrums Amberg, Cham, Weiden der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (KJPP) am Bezirksklinikum Regensburg. Auch wenn im alten Griechenland der "Lustknabe" oder die Aussagen in manchen Gruppierungen von "pseudoliberalen Strömungen" etwas anderes Glauben machen mögen - der asymmetrischen sexuellen Beziehung zwischen Kind und Erwachsenen ist es immer eigen, dass "Kinder ausgenutzt und geschädigt werden".

Für eine gesunde Entwicklung als Grundlage für ein glückliches Leben brauchen Kinder Sicherheit und Geborgenheit. Sie brauchen schon auch mal Streicheleinheiten und wollen gerne kuscheln. "Emotionales Füttern" nennt das Hench. Ein Kind ist aber keinesfalls auf sexuelle Befriedigung aus. Das stellt er klar. Dies würden nur die Täter so auf das Kind projiezieren. Für Kinder ist eine sexuelle Grenzverletzung immer traumatisch.

Ein Überschreiten der Grenze ist auch im späteren Alter immer dann gegeben, wenn etwas unter Zwang oder gegen Widerspruch geschieht.

Bis zu ein Prozent der männlichen Bevölkerung in Deutschland fühlt sich zu Kindern hingezogen. Genaue Zahlen dazu gibt es dazu allerdings nicht. Das Präventionsnetzwerk "Kein Opfer werden" schreibt: "Die Häufigkeit der Pädophilie oder pädophilen Störung in der Allgemeinbevölkerung ist unbekannt." Bei verschiedenen Studien gab es unterschiedliche Ergebnisse.

Die Mikado-Studie der Universität Regensburg aus dem Jahr 2015 nennt Zahlen, wonach bei 4,4 Prozent der männlichen deutschen Bevölkerung sexuelle Fantasien mit Kindern entscheidendes Gewicht haben. Die diagnostischen Kriterien der sexuellen Präferenz erfüllt allerdings nur einer von 1.000 Männern.

9,5 Jahre alt sind Kinder im Schnitt, wenn sie erste Missbrauchserfahrungen erleben. Das kam ebenfalls bei der Mikado-Studie heraus. "Die Ergebnisse der Studien verdeutlichen außerdem das Ausmaß des Problems und die Notwendigkeit eines umfangreichen Maßnahmenpakets zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellen Übergriffen."

An den Folgen von Missbrauch leiden Kinder und Jugendliche lange.

An den Folgen von Missbrauch leiden Kinder und Jugendliche lange.

Sensibilität ist gestiegen

Die Zeiten haben sich geändert im Tomas-Wiser-Haus. Nur mehr zwei oder drei Plätze von 180 Therapieplätzen sind dort jedes Jahr frei in den einzelnen Einrichtungen im ostbayerischen Raum frei. Die Entwicklung hin zu übervollen Betreuungseinrichtungen hält seit den 2010er Jahren an, sagt Heimleiter Karl Heinz Weiß. In den 1990er Jahren habe es deutlich mehr freie Plätze gegeben. Andererseits sei die Dunkelziffer bei Missbrauchsfällen höher gewesen.

Die gewachsene Sensibilität der Menschen nach Kindstötungen in den Nullerjahren sei wohl Grund dafür, meint er. Jedes Jahr fangen allein die Einrichtungen des Tomas-Wiser-Hauses 50 bis 60 neue Fälle auf. Kinder und Jugendliche finden dort eine Schutzzone, nachdem eindeutig Missbrauch belegt ist. Der könne sexueller, körperlicher oder seelischer Natur sein. "Das Jugendamt hat da meist schon interveniert", sagt Weiß.

Bis dahin erleiden und erdulden Kinder teils schwierigste Erlebnisse, sagt er. Posttraumatische Störungen, Depressionen, Bindungsstörungen, Ängste ... Die Liste möglicher Folgen von Missbrauch ist lang. In Schutzräumen wie dem Tomas-Wiser-Haus erholen sich die geschundenen Kinderseelen. Die Therapeuten und Pädagogen versuchen Lücken in der Persönlichkeit, ausgelöst durch Traumata, wieder zu schließen.

Ein bundesweit einmaliges Projekt

Der Schutz von Kindern genießt in Bayern höchste Priorität, heißt es aus dem Sozialministerium. In das bundesweit einmalige Projekt der bayerischen Kinderschutzambulanz (BKSA) steckte das Ministerium seit 2011 vier Millionen Euro. Die Förderung würde 2021 enden.

Weil sich die BKSA als landesweite Anlauf- und Beratungsstelle bei Verdacht auf körperliche oder sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche bewährt hat, wird sie weiter gefördert. Der Bedarf dafür ist "definitiv gegeben", betont Carina Weinzierl vom Landratsamt Landshut. Auch in Cham und Regen berufen sich die Behörden auf die medizinische Expertise der LMU in zweifelhaften Fällen.

Aus München heißt es, die bayerische Kinderschutzambulanz prüfe durchschnittlich jeden Tag einen Verdachtsfall. Darüberhinaus würden Verletzungen dokumentiert, Beweise gesichert und Diagnosen gestellt. So würde Klarheit geschaffen.

Die BKSA hat sich "zu einer unverzichtbaren Säule im bayerischen Gesamtkonzept zum Kinderschutz etabliert", heißt es aus dem Sozialministerium. "Als landesweites Kompetenzzentrum schließt sie mit ihren Angeboten, die bedarfsgerecht weiterentwickelt werden, eine Lücke zwischen Kinder- und Jugendhilfe und medizinischer Diagnostik und stärkt so den Kinderschutz in Bayern nachhaltig."

Seit Oktober 2019 läuft eine Online-Fortbildung für Ärzte, in denen ihnen Kenntnisse vermittelt werden, um Gewalt gegenüber Kindern zu erkennen.