Bayern

"Bloß überleben": Panik im Löwenbräukeller 1973 - ein Zeitzeuge erinnert sich

Vor 50 Jahren kam es im Löwenbräukeller nach einer "Bravo"-Party zu einer Massenpanik. Zwei Mädchen wurden zu Tode getrampelt. Peter J. Lang, damals 17, wurde schwer verletzt.Sein ganzer Rücken war blutig getreten. In der AZ erinnert er sich.


Der Schwerverletzte auf dem AZ-Foto von 1973 ist Peter Lang.

Der Schwerverletzte auf dem AZ-Foto von 1973 ist Peter Lang.

Von Nina Job

München - Der 12. April 1973 gehört zu den schwarzen Tagen in der jüngeren Geschichte Münchens. Am Abend dieses Tages veranstaltete die Jugendzeitschrift "Bravo" im Löwenbräukeller eine "Superdisco" mit Misswahl und Livekonzerten angesagter Bands.

Für zwei Mark Eintritt konnten die Jugendlichen ihren Idolen nah sein, 3000 junge Besucher drängten sich im Löwenbräukeller. Die Veranstaltung endete in einer Katastrophe: Nach Konzertschluss drängten alle durch eine Tür, die nur zur Hälfte geöffnet war. Die 90 Zentimeter schmale Öffnung wurde zum Trichter, die jungen Besucher stürzten übereinander und traten aufeinander, während von hinten die Masse immer weiter schob. Zwei 15-jährige Mädchen kamen ums Leben, 23 Jugendliche wurden zum Teil schwer verletzt.

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Aus der AZ von 1973: Der Schwerverletzte auf dem AZ-Foto von 1973 ist Peter Lang.

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So berichtete die AZ am Tag nach der Katastrophe.

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Rappelvoll: 3000 Teenager drängen sich am Abend der "Superdisco" und Miss-Wahl im Löwenbräukeller - 1200 mehr als erlaubt. Der AZ-Titel an einem der Tage nach dem Unglück.

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50 Jahre später: Peter Lang (r.) mit seinem Bruder Kurt am Ort des Geschehens. In diesem Saal fand 1973 die "Superdisco" statt.

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Peter Lang heute auf der Treppe des Löwenbräukellers. Er überlebte das Unglück schwer verletzt.

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Lange Haare, begeisterter Gitarrist: Lang (vorn) in den 1979ern.

Unter den Verletzten war auch der damals 17-jährige Schüler Peter J. Lang. In der AZ erinnert er sich an das einschneidende Erlebnis. "Daran werde ich mich wahrscheinlich auch noch am Totenbett erinnern", sagt er. "Es war eine Erfahrung, in der man abschließt."

Die Rockband Sweet und Peter Maffay standen auf der Bühne

Für ihn war es der erste Ausflug nach München und der erste Besuch eines Konzerts. Peter Lang freute sich auf seine Idole, die britische Rockband Sweet, und auf Peter Maffay. Sowohl Maffay als auch er selbst sind in Waldkraiburg in der Böhmerwaldstraße aufgewachsen. "Wir sind zu 60st oder 70st im Bus nach München", erzählt Lang. "Halb Waldkraiburg hat dem Auftritt entgegengefiebert."

Der 67-Jährige sitzt auf dem Sofa in seiner kleinen Wohnung. Jahrzehntelang hat er in einer Schachtel alle Artikel gesammelt, die er über die Katastrophe gefunden hat. Erst bei seinem letzten Umzug hat er die Schachtel versehentlich entsorgt.

Doch Gedächtnisstützen braucht er gar nicht. Obwohl das tragische Ereignis 50 Jahre zurückliegt, hat Lang alles noch sehr genau in Erinnerung. "Das hat sich eingebrannt bei mir", sagt er.

"Es war eine Riesenstimmung", erinnert sich der Zeitzeuge

"Wir hatten uns einfach ein tolles Konzert versprochen", erzählt der gelernte Schriftsetzer. "Und das war es auch. Es war eine Riesenstimmung." Damals trug Lang die Haare genauso lang wie seine Rockidole, er spielte Gitarre und freute sich - neben dem Auftritt von Maffay - besonders auf die britische Rockband Sweet.

"Es waren 3000 Menschen im Saal. Auch viele Freunde und mein Bruder." Kurt Lang arbeitete schon, bei der Eisenbahn in München. Die Brüder gehörten zu den ältesten Besuchern. "Viele waren 14 und 15. Das war auch ein bisschen das Problem. Schon vor dem Auftritt von Sweet gab es Durchsagen: Manche Kinder wurden aufgefordert, zu gehen, weil Mama draußen wartete", so Lang.

3000 Menschen mussten schnell aus dem Löwenbräukeller - aber es war nur eine Türe öffen

Gegen 22 Uhr war das Konzert zu Ende, später als geplant. "Die Leute waren gut drauf, die Stimmung war super, alle waren halb taub von der lauten Musik", erinnert sich Peter Lang. Trotzdem war ihm umwohl. "Als ich an der geschwungenen Treppe stand, war schon Chaos. Da hab ich schon gedacht, nee, da gehe ich nicht runter."

Lang wartete zunächst, doch draußen stand schon der Bus. Als seine Freunde hinuntergingen, reihte auch er sich ein. "Ich hab gedacht, es hilft nichts, ich muss da runter und bin auch in den Strom mit nei." Einen anderen Ausgang habe es nicht gegeben - "und von der Doppeltür war nur eine offen", erinnert sich Lang. "Man kann sich vorstellen: 3000 Menschen mussten schnell raus."

Der Jugendliche hatte Angst zu ersticken und wurde ohnmächtig

Der 17-Jährige hielt sich am Rand, fühlte sich wie in einem Strudel. Er spürte die Wand neben sich. "Und plötzlich habe ich einfach die Füße nicht mehr auf den Boden gekriegt. Die Masse hat mich waagerecht an dem Geländer runtergeschoben. Ich hab keine Luft mehr gekriegt." Die Angst wurde übermächtig. "Das Gefühl zu ersticken war das Schlimmste. Irgendwann wünschst du dir noch, dass es vorbei ist. Ich bin ohnmächtig geworden und war weg."

Wie lange, kann er nicht sagen. Er bemerkt nüchtern: "Sehr lange kann es nicht gewesen sein, sonst hätte ich ja Hirnschäden davongetragen."

"Das war bloß: überleben"

Als er wieder zu Bewusstsein kam, war die Panik wieder da. "Ich hab um mich gehaut, dass ich mich befreien konnte. Da wird man zum Tier", sagt er. Sein einziger Gedanke war, irgendwie zu dieser Tür zu kommen. "Ich weiß nicht, wie viele Menschen, wie viele Schichten Menschen unter mir waren. Ich habe auch in Gesichter geschaut, die da drin waren. Es war bloß noch wattiert. Das war bloß: überleben."

Schließlich wurde er durch die Tür nach draußen gezogen. Schmerzen spürte er da noch keine. "Erstmal war das Überleben viel wichtiger. Ich bin da, ich leb, ich steh!"

Sein Rücken war nur noch eine blutige, fleischige Masse

Er sah das Blaulicht der Sankas und herumrennende Notärzte. Er hörte Martinshörner, schreiende Eltern und Kinder. "Es war fürchterlich." Irgendwie fand er seinen Bus und stieg ein. Doch der Bruder überzeugte ihn, dass er Hilfe bräuchte. "Mir tat der Rücken sehr weh."

Ein Sanitäter wollte ihn untersuchen, schob vorsichtig seine Jacke hoch. "Der ganze Rücken war eine blutige, fleischige Masse und unten war ein tellergroßes Fleischstück rausgerissen. Da waren Stiefelabdrücke und Pumpsabdrücke drin."

Im selben Rettungswagen wie er lag das Mädchen, das später starb

Sanitäter legten ihn bäuchlings auf eine Trage, schoben ihn in einen Sanka. "Aber da lag schon ein Mädchen drin. Ich glaub, das war das Mädchen, das später gestorben ist."

Als Lang schließlich in die Klinik in der Nußbaumstraße gebracht worden war, kamen Polizisten, um ihn zu befragen. "Erst dann wurde ich zusammengenäht." Auch in der Klinik herrschte Chaos. Nach der OP fragte ihn der Arzt, ob er über Nacht irgendwo bleiben könne.

Nach 1,5 Stunden Zugfahrt schleppte sich der Verletzte noch durch den Schneeregen

Lang schaffte den kurzen Weg ins Wohnheim, in dem der Bruder ein Zimmer hatte, nicht. Die beiden stoppten ein Taxi. Am nächsten Tag schleppte er sich erneut in die Klinik zum Verbinden, dann brachte ihn sein Bruder zum Bahnhof.

Nach 1,5 Stunden Zugfahrt mit Umstieg in Mühldorf stapfte Lang noch drei Kilometer durch den Schneeregen. "Ich habe zu Hause geklingelt, meine Mama hat aufgemacht, und ich weiß noch, dass ich ihr nur noch um den Hals gefallen bin und in den Flur nei."

"Diesen Tag werde ich nie vergessen"

"Diesen Tag", sagt Peter Lang, "werde ich nie vergessen. Der 12. April ist mein zweiter Geburtstag - auch wenn ich ihn nicht feiere. Er ist er ein wichtiges Datum: wie mein Herzinfarkt, der Tod meines Vaters und die Geburt meines Sohnes."

50 Jahre liegt das dramatische Ereignis nun zurück. Doch es begleitet Peter J. Lang immer. Auch heute noch bereitet es ihm Schwierigkeiten, wenn sich viele Leute auf engem Raum befinden. "Wenn fünf, sechs Menschen auf mich zukommen, kriege ich Schockstarre."

Eine Entschädigung gab es nie

Auch leidet Peter Lang schon sehr lange unter Rückenproblemen. Ob sie mit damals zusammenhängen? Er weiß es nicht.

Eine Entschädigung für das erlittene Leid gab es nie. "Das Einzige, was ich bekommen habe, war eine Spende vom Roten Kreuz." Zwar hätten sich damals einige Betroffene zu einer Initiative zusammengeschlossen, doch er war nicht dabei. "Einen Anwalt hätten sich meine Eltern nicht leisten können. Damals war man gottergebener als heute. Ich war froh, dass ich das überlebt habe. Ich habe riesiges Glück gehabt."

Die beiden Opfer von damals: Für Olga († 14) und Barbara († 15) war es die erste Party ihres Lebens

Für die meisten der zehn- bis 17-jährigen Teenager war es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie ausgehen durften. So war es auch für die Schülerinnen Olga und Barbara, die am 12. April 1973 in den Löwenbräukeller zur Wahl des "Bravo-Mädchens" und des "Bravo-Jungen" des Jahres kamen. Die Misswahl wurde durch Livekonzerte gekrönt.

Barbara M. (15) hatte sich am Vorabend noch ihre Jeans genietet, berichtete ihr Vater. "Es war ihr Herzenswunsch, mit dabei zu sein." Das Mädchen wurde totgetrampelt. Die 14-jährige Olga starb fünf Tage nach der "Bravo"-Party.

Die Mutter musste mit ansehen, wie ihr Kind totgetrampelt wird

Ihre Mutter wollte sie abholen, wartete draußen vor dem Löwenbräukeller. Die Frau musste hilflos mit ansehen, wie ihr Kind überrannt wurde. Der Arm des Mädchens hing dabei aus der Tür. 23 weitere Jugendliche wurden zum Teil schwer verletzt. Sie erlitten Brüche und Quetschungen, Fleischwunden, auch Ohren wurden abgerissen.

Nach der Katastrophe sammelten Kinder Geld für ihre verletzten Mitschüler

Nach der Katastrophe sammelten Kinder Geld für ihre verletzten Mitschüler - für Schönheits-OPs. Zugelassen waren bei dem Event 1800 Personen, es kamen 3000. Juristisch zur Verantwortung gezogen wurde niemand. Der Veranstaltungsdienst sagte, er habe 16 Männer im Einsatz gehabt, die damit beschäftigt gewesen seien, Autogrammjäger von der Bühne fernzuhalten. Warum der zweite Türflügel nicht geöffnet wurde, blieb unklar.