Heftiger Wirbel um Hetzschrift
Aiwanger weist Vorwürfe zurück - Bruder soll Flugblatt verfasst haben
26. August 2023, 12:38 Uhr aktualisiert am 28. August 2023, 4:25 Uhr
Mitten im bayerischen Landtagswahlkampf hat sich Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger gegen Vorwürfe im Zusammenhang mit einem antisemitischen Flugblatt aus Schulzeiten zur Wehr gesetzt. Nach Aufklärungs-Aufforderungen unter anderem von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und auch aus der Bundesregierung teilte der Freie-Wähler-Chef am Samstagabend in einer schriftlichen Erklärung mit: «Ich habe das fragliche Papier nicht verfasst und erachte den Inhalt als ekelhaft und menschenverachtend.» Er fügte hinzu: «Der Verfasser des Papiers ist mir bekannt, er wird sich selbst erklären.» Weder damals noch heute war und und sei es seine Art gewesen, «andere Menschen zu verpfeifen», fügte der 52-Jährige hinzu.
Aiwangers Bruder: "Ich bin der Verfasser des Flugblatts"
Kurz darauf räumte der ein Jahr ältere Bruder Aiwangers ein: "Ich bin der Verfasser des in der Presse wiedergegebenen Flugblattes." In einer persönlichen Erklärung, die ein Freie-Wähler-Sprecher weiterleitete und die der Bruder selbst in einem Telefonat mit der Deutschen Presse-Agentur bestätigte, hieß es: "Ich distanziere mich in jeder Hinsicht von dem unsäglichen Inhalt und bedauere sehr die Folgen dieses Tuns. Ich war damals total wütend, weil ich in der Schule durchgefallen war."
Die «Süddeutsche Zeitung» hatte über das Flugblatt berichtet, das vor mehr als 30 Jahren aufgetaucht sein soll. Über einen Sprecher hatte der Freie-Wähler-Chef der «SZ» bereits mitgeteilt, er habe «so etwas nicht produziert» und eine «Schmutzkampagne» beklagt.
Flugblätter in Aiwangers Schultasche gefunden
"Bei mir als damals minderjährigem Schüler wurden ein oder wenige Exemplare in meiner Schultasche gefunden", erklärte Aiwanger nun. "Daraufhin wurde ich zum Direktor einbestellt. Mir wurde mit der Polizei gedroht, wenn ich den Sachverhalt nicht aufkläre." Seine Eltern seien nicht eingebunden gewesen. Als Ausweg sei ihm angeboten worden, ein Referat zu halten. "Dies ging ich unter Druck ein. Damit war die Sache für die Schule erledigt." Aiwanger fügte hinzu: "Ob ich eine Erklärung abgegeben oder einzelne Exemplare weitergegeben habe, ist mir heute nicht mehr erinnerlich. Auch nach 35 Jahren distanziere ich mich vollends von dem Papier."
Söder hatte von seinem Koalitionspartner umgehend Aufklärung gefordert. "Diese Vorwürfe müssen jetzt einfach geklärt werden. Sie müssen ausgeräumt werden und zwar vollständig", hatte Söder am Mittag am Rande eines Volksfest-Termins in Augsburg gesagt. "Es sind schlimme Vorwürfe im Raum. Dieses Flugblatt ist menschenverachtend, geradezu eklig." Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte beim Twitter-Nachfolger X geschrieben: "Wer die Opfer von Auschwitz verhöhnt, darf in unserem Land keine Verantwortung tragen. Die schwerwiegenden Vorwürfe müssen dringend aufgeklärt werden."
In Bayern wird am 8. Oktober ein neuer Landtag gewählt. Die CSU hatte stets erklärt, die Koalition mit den Freien Wählern nach der Wahl fortsetzen zu wollen. Alle Umfragen hatten bis zuletzt fast keinen Zweifel daran gelassen, dass dies auch möglich sein wird - wobei die Freien Wähler zuletzt bei 11 bis 14 Prozent lagen. Die CSU regiert im Freistaat seit der Wahl 2018 zusammen mit den Freien Wählern.
Das sagen Freie Wähler zu den Vorwürfen
Freie-Wähler-Landtagsfraktionschef Florian Streibl sagte am Abend, Aiwanger habe sich "dem erweiterten Fraktionsvorstand gegenüber erklärt und den anwesenden Abgeordneten glaubhaft versichert, dass er nicht Verfasser des scheußlichen Pamphlets ist". Streibl: "Zugleich hat er sich von den Inhalten des Dokuments sowie Antisemitismus jeglicher Ausprägung maximal distanziert." Er vertraue "seiner heute abgegebenen Versicherung und hoffe, dass die wahren Hintergründe der Angelegenheit schnellstmöglich aufgeklärt werden".
Der Parlamentarische Geschäftsführer Fabian Mehring (Freie Wähler) beklagte eine Kampagne: Es sei bemerkenswert, "welche Kampagnen sechs Wochen vor wichtigen Wahlen gegen uns gefahren werden, nachdem wir Freie Wähler auf der politischen Erfolgswelle schwimmen."
Knobloch: Aiwanger-Debatte hat viel Vertrauen zerstört
Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG), Charlotte Knobloch, hat sich nach dem Wirbel um Bayerns Vize-Regierungschef Hubert Aiwanger um ein antisemitisches Pamphlet entsetzt gezeigt. Im Tonfall erinnere sie das Flugblatt an die übelsten Hetzschriften der NS-Zeit, teilte die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland am Sonntag mit. "Die Debatte der letzten Tage hat viel Vertrauen zerstört, das jetzt mühsam wiederhergestellt werden muss." Die aktuelle Episode müsse ein Weckruf sein, eine demokratische Bildung in Kenntnis der Geschichte zu fördern.
Opposition fordert Konsequenzen
Nach Bekanntwerden der Vorwürfe waren aus fast allen Richtungen Forderungen nach Aufklärung und nötigenfalls Konsequenzen gekommen. Die bayerische Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU) hatte bei X gepostet: "Die Vorwürfe gegen Hubert Aiwanger wiegen schwer - nur er selbst kann sich von diesem widerlichen, antisemitischen Pamphlet glaubhaft distanzieren und sollte dies schnell tun." Die AfD hatte Aiwangers Rücktritt gefordert. Dies hatten auch die Grünen verlangt für den Fall, dass sich die Vorwürfe bestätigen sollten.
Die Grünen im Freistaat fordern eine Stellungnahme von Ministerpräsident Markus Söder (CSU). Die SPD hält einen Rücktritt oder eine Entlassung des Wirtschaftsministers für unausweichlich - und bleibt deshalb bei ihrer Forderung nach einer Sondersitzung im Landtag.
"Es gibt noch viele offene Fragen und Erinnerungslücken. Die müssen geklärt und geschlossen werden", sagte Grünen-Fraktionschefin Katharina Schulze am Sonntag der Deutschen Presse-Agentur in München. "Denn dieses Dokument ist menschenverachtend und verhöhnt die Opfer des Holocaust. Warum hatte Hubert Aiwanger das Flugblatt denn in der Schultasche? Das hat er ja nun nicht mehr abgestritten." Jetzt sei Söder am Zug. "Ich möchte von Markus Söder wissen, ob ihm die Erklärungen Hubert Aiwangers ausreichen, um die Zusammenarbeit fortzusetzen. Da kann er jetzt nicht auf Tauchstation gehen."
SPD-Fraktionschef Florian von Brunn sagte, das Flugblatt sei keine Jugendsünde. "Es ist es für mich unvorstellbar, dass Markus Söder weiter mit jemandem kooperiert und koaliert, der den Besitz bestätigt und die Verbreitung nicht leugnen kann." Er fügte hinzu: "Jeder weitere Tag als Stellvertreter von Markus Söder und als Wirtschaftsminister vergrößert diesen Schaden, so dass alles andere als ein Rücktritt oder eine Entlassung im Interesse der bayerischen Bevölkerung und der Erinnerungskultur nur schwer vorstellbar ist." Deswegen sei eine rasche Sondersitzung im Landtag notwendig.
Aiwanger geriet mit Rede in Erding in Kritik
Aiwanger war im Juni zuletzt wegen umstrittener Äußerungen auf einer Kundgebung in Erding bundesweit in die Schlagzeilen geraten. Er hatte dort unter anderem gesagt, dass die schweigende Mehrheit sich die «Demokratie zurückholen» müsse. Ihm wurde daraufhin - wie schon so oft - Populismus vorgehalten.
Aiwanger, der starke Mann der Freien Wähler bayern- und auch bundesweit, sieht sich gerne als Vertreter der von ihm so bezeichneten «normalen Bevölkerung», von Landwirten und Handwerkern. In Bierzelten und bei anderen Auftritten ledert er regelmäßig gegen die Grünen und die Ampel-Regierung. Vorwürfe, ein Populist zu sein, lässt er an sich abperlen. Er werde sich nicht mundtot machen lassen, sagt er dazu. Sein erklärtes Ziel ist es, potenzielle AfD-Wähler von Stimmen für die AfD abzuhalten und sie zu den Freien Wählern zu «locken».