Für drei Stunden blind

Ein Redakteur geht zum Abendessen im Dunkeln


Beim "Dinner in the dark" können die Gäste die Hand vor Augen nicht sehen. Hier ist jeder für drei Stunden blind. Damit sich die Gäste zurechtfinden, hat alles, was man für das Essen im Dunkeln braucht, einen festen Platz.

Beim "Dinner in the dark" können die Gäste die Hand vor Augen nicht sehen. Hier ist jeder für drei Stunden blind. Damit sich die Gäste zurechtfinden, hat alles, was man für das Essen im Dunkeln braucht, einen festen Platz.

Stück für Stück taste ich mit meiner linken Hand den Tisch ab, bis ich mit den Fingerspitzen ein Glas berühre. Ich halte es fest und suche mit der anderen Hand weiter den Bereich vor mir ab. Ich finde eine Wasserflasche, ziehe sie langsam zu mir und schenke im Schneckentempo ein. Warum ich so vorsichtig bin? Ich sehe nichts. Denn ich bin blind - für drei Stunden beim "Dinner in the dark".

Ich bin nicht alleine hier. Wir sitzen zu viert an einem von vielen Tischen - neben mir meine Mutter. Ich habe ihr das Vier-Gänge-Menü in absoluter Dunkelheit zum Geburtstag geschenkt. Mir gegenüber sitzt ein Mann, neben ihm seine Frau. "Bist du fertig mit dem Wasser?", fragt mich mein Tischnachbar. Ich nicke, bis mir schlagartig einfällt, dass er es nicht sehen kann. "Ja", antworte ich etwas verspätet. "Ich stelle die Flasche wieder zurück." Schritt für Schritt schiebe ich sie in die Mitte. Mein Tischnachbar bedankt sich. Es zischt und gluckert und ich weiß, dass er sich jetzt auch Wasser einschenkt.

Vorsicht, heiß!


Es ist ziemlich laut in dem Raum, in dem wir sitzen. Deswegen bemerke ich nicht sofort, dass eine von zwei Kellnerinnen neben mir steht. Die beiden Bedienungen tragen Nachtsichtgeräte. Sie bringen nicht nur das Essen an den Tisch und schenken Wein nach, sondern führen uns auch bei Bedarf durch die Finsternis zu den Toiletten. "Ich stelle jetzt ein Glas mit dem ersten Gang vor Sie", erklärt die Kellnerin und warnt mich: "Vorsicht, der Inhalt ist noch sehr heiß." Ich greife in die Dunkelheit und packe das Glas. Von einem Nachbartisch höre ich, dass sich darin eine Suppe befindet. Ich nehme einen Schluck - zu schnell, denn ich verbrenne mir gleich die Zunge. Ich warte ein bisschen und atme durch. Am Tisch fangen meine Mutter und unsere Sitznachbarn an, zu diskutieren: Welche Suppe trinken wir wohl? Ich nehme noch einen Schluck. Brokkoli- oder Blumenkohl-Suppe, tippe ich.

Während wir auf den zweiten Gang warten, kommen wir mit dem Pärchen, das sich mit uns den kleinen Tisch teilt, ins Gespräch. Sie erzählen von ihren Kindern, von ihren Berufen und Geschichten aus ihrem Leben.

Ich weiß nicht, wie meine Tischnachbarn aussehen. Je mehr sie von sich preisgeben, umso genauer wird das Bild von beiden in meinem Kopf. Ich male mir Gesichtsformen aus und überlege, wie sie angezogen sein könnten. Bei der Frau tippe ich auf ein Kleid - das ist falsch, wie sich später bei Licht herausstellen wird.

Der zweite Gang wird serviert. Das erste Mal an diesem Abend muss ich mit Gabel und Messer umgehen. Das ist bei völliger Finsternis gar nicht so einfach. Erwartungsvoll stochere ich in der kleinen Schüssel herum und versuche Essen aufzuspießen. Es funktioniert nicht. Ich beschließe die Gabel Gabel sein zu lassen, lege meine Tischmanieren samt Besteck beiseite und esse mit den Fingern. Im Dunkeln sieht das eh niemand.

Im Finstern verliere ich mein Zeitgefühl. Der Abend vergeht in Windeseile. Der dritte Gang und das Dessert stehen schneller als erwartet vor mir auf dem Tisch. Vor allem die Hauptspeise lässt meine Geschmacksnerven Achterbahn fahren. Denn auf dem Teller erwartet mich eine ungewöhnliche Kombination aus deftigen und süßen Zutaten, die aber perfekt zusammenpassen.

Überraschung am Ende


Nach dem Dessert geht endlich das Licht an. Die Überraschung ist groß, als meine Mutter und ich unsere Tischnachbarn zum ersten Mal sehen. Die Frau trägt einen schicken Blazer zu einer Jeans - von wegen Kleid. Der Mann hat ein einfaches T-Shirt an. Aufgelöst wird jetzt auch, was uns auf den Tellern serviert wurde. Vor allem beim Hauptgang sind alle verblüfft: Spinat-Bandnudeln mit Parmesan, dazu Wiesent-Fleisch, Bohnen und - Achtung - gebackene Bananen. Die Kombination klingt zwar ungewöhnlich, hat aber sehr gut geschmeckt.

Am Ende löst sich die gemütliche Runde auf. "Schön, dass wir uns gesehen haben", sagt die Frau, die mit uns am Tisch saß, zum Abschied. Wir lachen, denn sehen konnten wir uns eigentlich nicht.