Polizist nach Stuttgart im Interview
"Das macht mürbe und hinterlässt tiefe Spuren"
23. Juni 2020, 11:46 Uhr aktualisiert am 23. Juni 2020, 12:07 Uhr
Die Chaos-Nacht von Stuttgart: eine Stadt im Ausnahmezustand. Nach Angaben der Polizei vor Ort sind etwa 500 Menschen an den Randalen beteiligt. Sie ziehen durch die Straßen, verwüsten und plündern. Zusätzlich entlädt sich ihr offensichtlicher Hass auf die Polizei. 19 Beamte werden teils schwer verletzt, mindestens zwölf Polizeiautos demoliert. Eine neue Dimension der Gewalt? Steuern wir in Deutschland auf US-amerikanische Verhältnisse zu? Und wie erleben Polizisten derartige Einsätze? Antworten darauf liefert Jürgen Köhnlein im Interview mit idowa. Er ist Vorsitzender des Bayerischen Landesverbandes der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG).
Herr Köhnlein, wie beurteilen Sie die Vorfälle in Stuttgart?
Jürgen Köhnlein: Die Ausschreitungen und Plünderungen in Stuttgart, einhergehend mit 19 verletzten Polizisten, sind eine neue Dimension von Übergriffen. Mit einer solchen gewalttätigen Eskalation hätte niemand gerechnet.
Was war für Sie daran besonders schockierend?
Köhnlein: In Stuttgart haben wir eine marodierende Horde gesehen, die sich aufführt, als sei das ein Spaß-Event. Unter Gejohle werden ein dutzend Polizeifahrzeuge völlig demoliert, Ladenzeilen wurden zerstört und geplündert. Die Handykamera läuft immer mit, die Videos werden live gepostet. So wurde die Stuttgarter Innenstadt zur Bühne ungezügelter Gewalt. Die Straftäter wollen keine Botschaft senden, sondern nur zerstören und sich inszenieren.
Sie sprechen die ungezügelte Gewalt an. Bei dem Einsatz wurden ja auch 19 Polizeibeamte verletzt…
Köhnlein: Diese Menschen machen auch nicht vor schweren Körperverletzungen halt. Ein Maskierter hat einen Beamten umgetreten, der gerade am Boden kniete um jemanden festzunehmen. Ein solcher Tritt kann tödlich enden.
"In Stuttgart fehlte nur noch der Funke"
Wo liegen Ihrer Auffassung nach die Gründe, weshalb auch hierzulande die Hemmschwelle zur Gewalt offenbar immer niedriger wird?
Köhnlein: Diese Gewalttaten sind nicht von heute auf morgen ausgebrochen, so wie es der erste Eindruck erweckt. Bereits in den Wochen zuvor kam es in Stuttgart wiederholt zu Vorfällen und Polizeieinsätzen. Dabei hatte unter anderem eine wütende Menge einen Mann ohne Fahrkarte verteidigt, der von den Beamten kontrolliert werden sollte. Ein weiterer Vorfall ereignete sich im Rahmen einer "Black Lives Matter"-Demo, als mehrere linksextreme Gruppierungen durch die Innenstadt zogen, dabei Polizisten mit Steinen bewarfen und das Polizeirevier umzingelten.
Die Stimmung in Stuttgart war also bereits aufgeladen…
Köhnlein: Ja, es fehlte nur noch der Funke, um es zum Explodieren zu bringen. Überraschend ist allerdings die Wucht der "Explosion". Die Täter bringen den Einsatzkräften nicht nur keinerlei Respekt entgegen, sie akzeptieren Polizisten nicht als Menschen. Vielmehr sehen sie Polizisten als Objekte, die man bewerfen darf und auf die man eintreten und einschlagen kann. Damit werden nicht nur Grenzen überschritten, sondern auch staatliche Institutionen verhöhnt und unsere Rechtsstaatlichkeit in Frage gestellt.
Haben derartige Vorfälle Ihrer Erfahrung nach in Deutschland zugenommen?
Köhnlein: Gerade in der Zeit der Lockerungen nach den Corona-Beschränkungen erfahren wir oft diesen Hass bei Auseinandersetzungen. In Zahlen ist das aktuell schwer zu fassen. Auch die Fallzahlen von Gewalt gegen Polizeibeamte nehmen seit deren Erfassung vor zehn Jahren jedes Jahr zu.
Steuern wir mittlerweile in Deutschland immer mehr auf US-amerikanische Verhältnisse zu, wo Randalierer marodierend durch die Straßen ziehen?
Köhnlein: Wir haben als Polizeigewerkschaft eindringlich davor gewarnt, dass Gruppierungen versuchen werden, die Verhältnisse aus den USA auf Deutschland zu übertragen. Das gilt auch für die Plünderungen und das Brandschatzen. Die Rahmenbedingungen für derartige Aktionen sind da. Bewusst werden aktuell Grenzen überschritten, um auszuloten, was möglich ist. Nur hören wollte man unsere Rufe nicht.
Kann man sich in Reihen der Polizei auf derartige Einsätze überhaupt irgendwie vorbereiten?
Köhnlein: Nein, auch mit dem Wissen um die vorangegangenen Einsätze konnte man sich auf eine solch hohe Anzahl an Randalierern und drohenden Straftaten nicht vorbereiten. Bei Einsatzlagen wie angemeldeten Demonstrationen gibt es Ablaufpläne, es erfolgt eine Lageeinschätzung und entsprechende Kräfteanforderungen. Aber bei einer ad-hoc-Lage wie in Stuttgart ist so etwas nur schwer möglich.
Welche Rückmeldungen bekommen Sie aktuell von Kollegen? Fühlen sich Polizisten derzeit in Deutschland noch sicher angesichts derartigem Hass gegen die Beamten?
Köhnlein: Die Gewissheit, unbeschadet aus dem täglichen Dienst wieder nach Hause zu kommen, so wie es bei jedem Berufstätigen eine Selbstverständlichkeit ist, haben Polizisten schon lange nicht mehr. Täglich schwelt die Gefahr, im Dienst verletzt oder sogar getötet zu werden. Das macht mürbe und hinterlässt tiefe Spuren in den Familien.
"Viele Kollegen sind froh, nach dieser Nacht überhaupt wieder nach Hause gekommen zu sein"
Und Ihre Kollegen in Stuttgart?
Köhnlein: Aus Stuttgart hört man, dass viele froh sind, nach dieser Nacht überhaupt wieder nach Hause gekommen zu sein. Die bangen Stunden der Familienmitglieder, die in den Sozialen Medien live mit ansehen mussten, wie ihre Liebsten verprügelt werden, bereiten Angst und große Sorge.
Forderung an die Politik
Inwiefern sehen Sie nun die Politik in der Pflicht, etwas zu ändern?
Köhnlein: Es gab ein wohltuendes Signal aus der Innenministerkonferenz. Der Polizei wurde da sicherlich der Rücken gestärkt. Das war wichtig. Im politischen Raum herrscht aber weiterhin ein Klima des Misstrauens gegen die Polizei. Befeuert wird das durch pauschale Unterstellungen, wie die eines latenten Rassismus, einer erhöhten Gewaltbereitschaft und einer Nähe zum rechten Gedankengut. Auch ein Antidiskriminierungsgesetz in Berlin ermuntert Krawallmacher, Polizisten zu provozieren, mit brutaler Gewalt auf sie loszugehen und so amerikanische Verhältnisse zu schaffen. Der Gedanke, Polizisten "auf dem Müll zu entsorgen", scheint mittlerweile salonfähig zu sein.
Haben Sie denn Hoffnung, dass sich etwas ändert?
Köhnlein: Solange in Teilen der Politik der Wille zur Unterstützung seiner eigenen Ordnungskräfte fehlt, diese Gewalttaten und Plünderungen kleingeredet werden, gleichzeitig aber Polizisten als rassistische Gewalttäter unter Generalverdacht gestellt werden, wird sich diese Lage nicht entspannen. Politiker dürfen es nicht bei einer Empörungsrhetorik belassen: es müssen jetzt Taten folgen!