Messer am Hals
Ein Fall aus Landau zeigt die Grenzen des Rechtsstaats auf

Julia Maier/Mediengruppe Attenkofer
Eine falsche Bewegung, und der damals 19-Jährige hätte sterben können. Bis heute kämpft er mit Schlaflosigkeit, Angstzuständen und Panikattacken. Wenn es ganz schlimm wird, braucht er Beruhigungsmittel.
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Im Video erzählt idowa- und Seite 3-Redakteurin Clio Sailer, wie die Geschichte hinter diesem Türchen entstanden ist.
Der 7. Juni 2024 wird das Leben einer Landauer Familie verändern. An jenem 7. Juni wird der damals 19-jährige Philipp F. von zwei Männern bedroht und beraubt. Für ihn wird seine Heimatstadt an jenem Abend ein gefährlicher Ort. Philipp wird nach der Tat Medikamente brauchen, um seinen Alltag zu meistern. Seine Eltern fühlen sich seit jenem Abend von der Justiz im Stich gelassen. Ein Fall, der zeigt, dass der Rechtsstaat Grenzen hat und das Leid von Opfern auch nach einem Urteil nicht endet. Philipp F., das ist nicht sein richtiger Name. Und diese Geschichte erzählt nicht er, sondern seine Eltern für ihn. Aus Angst vor den Tätern will die Familie anonym bleiben. Die echten Namen sind unserer Redaktion bekannt, Gerichtsunterlagen und Kontoauszüge liegen unserer Redaktion vor.
Am 7. Juni 2024 sind Philipp und ein Bekannter gegen 22 Uhr im Landauer Mehrgenerationenpark unterwegs. Durch die Stadt wehen Wortfetzen und Gelächter, die Luft ist warm, ein friedlicher Abend. Philipp sitzt auf einer Bank, als zwei junge Männer auf ihn und seinen Bekannten zukommen. Er kennt einen der beiden, einen damals 19-jährigen Syrer, von der Mittelschule. Den anderen, einen damals 15-jährigen Mazedonier, kennt Philipp nicht. Die beiden Männer setzen sich links und rechts neben ihn auf die Bank. Der 19-Jährige nimmt Philipp in den Schwitzkasten, drückt ihm ein Messer an den Hals und zieht ihm den Geldbeutel aus der Tasche. Philipp weiß nicht, wie ihm geschieht, wehrt sich nicht, ist wie erstarrt. Der 19-Jährige nimmt sich 30 Euro und gibt den leeren Geldbeutel zurück. Dann verschwinden die Jugendlichen in der Dunkelheit.
„Es tut weh, das eigene Kind so zu sehen“
Jetzt, über ein Jahr nach der Tat, hat Philipp noch immer Panikattacken, kann nachts oft nicht schlafen, braucht Beruhigungsmittel. Sein Sohn sei schon immer ruhig gewesen, sagt Robert F., Philipps Vater. Aber seit einem Jahr erkenne er Philipp nicht wieder. „Es tut weh, das eigene Kind so zu sehen“, sagt Vera F., Philipps Mutter.
Es sei nicht nur das Trauma von der Tat selbst, das Philipp zu schaffen mache. Vor allem sei es die Angst, einem der Täter wieder zu begegnen. Ihr Sohn gehe in Landau deshalb nicht mehr aus. Zum Volksfest wollte Philipp dieses Jahr nicht, zu groß war die Angst, einem der Täter zu begegnen. Aber die Täter „sehe ich überall“, sagt Vera F. Dieses Jahr habe sie die beiden am Weinfest gesehen. Als sei nie etwas gewesen, hätten sie dort gefeiert. „Die Stadt ist einfach klein“, sagt Robert F. „Solche öffentlichen Veranstaltungen kann unser Sohn vergessen. Aber die trauen sich. Das ist das, was wehtut.“
Damals, an jenem Abend nach der Tat, geht Philipp wortlos in sein Zimmer. Er erzählt niemandem von dem Vorfall. „Ich habe aber die ganze Zeit gesehen, dass etwas nicht stimmt“, sagt seine Mutter. Dann vertraut sich Philipp ihr doch an und sie ermutigt ihren Sohn, zur Polizei zu gehen. Die Fingerabdrücke auf Philipps Geldbeutel und die Zeugenaussage von ihm und seinem Bekannten führen die Kriminalpolizei Landshut schon am nächsten Tag zu dem 19-jährigen Haupttäter. Er wird in eine JVA in Oberbayern gebracht, verbringt dort mehrere Monate in Untersuchungshaft. Philipps Familie ist erleichtert. Zunächst. Dann, so sagen seine Eltern, erfährt Philipp, dass ein Bekannter des Täters angeboten habe, ihm etwas anzutun, wenn das dem Täter nützen würde. Philipp geht wieder zur Polizei. Die Beamten finden den Bekannten des Täters schnell, die Familie ist wieder erleichtert.
Dann bekommt Philipp einen Brief von einem Anwalt aus München. Ein Schlichtungsangebot. Der ältere Haupttäter habe ihn beauftragt, schreibt der Anwalt. Der 19-Jährige also, der Philipp das Messer an den Hals gehalten hatte, wolle sich „für sein Fehlverhalten entschuldigen und eine angemessene Wiedergutmachung leisten“. Einen Monat später folgt ein weiteres Schreiben. Diesmal schreibt eine Landauer Anwältin im Auftrag des jüngeren Täters. Auch ihrem Mandanten tue der Vorfall leid, auch er wolle Wiedergutmachung leisten. Und deshalb einmalig 50 Euro an Philipp überweisen. „Ich bitte deshalb um Mitteilung Ihrer Bankverbindung, damit mein Mandant Ihnen das Geld zukommen lassen kann“, schreibt die Anwältin.
„Ich habe ihm das nicht abgenommen“
Vor Gericht führen Verteidiger gerne an, dass sich ihr Mandant ja bereits schriftlich entschuldigt und eine Wiedergutmachung angeboten habe. Das kann zu einer milderen Strafe für den Täter führen. Ob der Anlass für die Entschuldigung echte Reue war oder Prozesstaktik des Anwalts, kann dabei freilich niemand überprüfen. Als die Anwaltsschreiben kamen, seien sie überfordert gewesen, sagen Vera und Robert F. Muss ihr Sohn darauf antworten? Muss er das Geld annehmen? Was passiert, wenn er nicht antwortet? Dann seien sie wütend geworden, sagen die beiden. 50 Euro als Entschädigung dafür, dass ihr Sohn noch immer leidet? Für die Familie ist klar: Sie werden das Geld nicht annehmen.
Im Dezember 2024 kommt es zum Prozess vor dem Amtsgericht Landshut. Philipp darf nicht die Nebenklage antreten. Der Grund: Der zweite Täter war minderjährig. Bei einer Tat, an der ein Minderjähriger beteiligt ist, darf auch gegen den oder die anderen volljährigen Täter keine Nebenklage erhoben werden. Außer, es sind bestimmte Bedingungen erfüllt. So müsste „die Gefahr einer seelisch oder körperlichen schweren Schädigung vorliegen“, heißt es vom Amtsgericht Landshut. Dies sei in Philipps Fall nicht gegeben, heißt es weiter in der Begründung des Gerichts. Für die Familie ein Schlag ins Gesicht. „Eine falsche Bewegung und das wäre für niemanden gut ausgegangen“, sagt Robert F. Sein Sohn hätte an dem Abend sterben können. Wie es sein kann, dass das nicht für eine Nebenklage reicht, fragt sich Philipps Vater bis heute.
Als es zur Verhandlung vor dem Amtsgericht Landshut kommt, ist der Haupttäter, der 19-jährige Syrer, wegen schweren Raubes in Tateinheit mit Körperverletzung angeklagt. Er habe sich mit Tränen in den Augen bei ihrem Sohn entschuldigt, sagt Vera F. „Ich habe ihm das nicht abgenommen.“ Sie denkt, der Täter habe sich nur entschuldigt, um den Richter milde zu stimmen. Der Richter verurteilt den 19-Jährigen nach Jugendstrafrecht zu einer Freiheitsstrafe von 17 Monaten, ausgesetzt zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe. Er muss also nicht in Haft, kann sich frei bewegen. Die Höchststrafe für schweren Raub liegt im Jugendstrafrecht bei zehn Jahren, im Erwachsenenstrafrecht bei 15 Jahren. Höchststrafen werden aber nur in den seltensten Fällen verhängt. Im Jugendstrafrecht zählt vor allem der Erziehungsgedanke. Jugendliche langen Gefängnisstrafen auszusetzen, gilt als nicht förderlich für die Resozialisierung. Philipps Eltern finden das Urteil zu mild. „Wo bleibt da die Abschreckung, die Konsequenz?“ fragt Robert F.
„Als würde man in ein schwarzes Loch schreiben“
Laut Vera F. hat der Richter außerdem strafmildernd anerkannt, dass der Haupttäter in Untersuchungshaft „so viel im Koran gelesen habe“. Das Amtsgericht Landshut antwortet auf die Anfrage unserer Redaktion, dazu stehe nichts in der Urteilsbegründung. Der Richter sei außerdem nicht mehr für das Gericht tätig. Ob der Richter diese Angabe des Täters überprüft hat, könne nicht gesagt werden.
Die beiden Täter müssen Philipp bis heute jeden Monat 50 Euro überweisen, insgesamt 1.000 Euro pro Person. Aber die beiden leisteten die Zahlungen nicht regelmäßig, mal komme das Geld nicht pünktlich, mal komme es gar nicht, erzählt Robert F. „Man muss jeden Monat aufpassen, ob sie jetzt überweisen oder nicht.“
Weil der Täter in Landau wohnt, ist das Amtsgericht Landau für die Überwachung der Bewährungsauflagen zuständig. Also ruft Vera F. im Amtsgericht an. Von dort habe es geheißen, sie solle ihr Anliegen per Brief oder Fax mitteilen. Also schreibt sie einen Brief. Keine Reaktion. Zwei Monate später einen zweiten. Keine Reaktion, sagt Vera F. „Es ist, als würde man in ein schwarzes Loch schreiben.“ Das Amtsgericht Landau antwortet auf die Anfrage unserer Redaktion, man könne zu dem Fall aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Auskunft erteilen. Die für ein Bewährungsverfahren zuständigen Richter würden die Einhaltung der Bewährungsauflagen aber „engmaschig überwachen“, heißt es. Meldungen von Geschädigten würden zur Kenntnis genommen, überprüft und falls nötig weitere Schritte in die Wege geleitet. All das könne dauern, heißt es vom Amtsgericht.
Philipp hat mittlerweile eine Ausbildung angefangen, die ihm Spaß macht, erzählt seine Mutter. Er hat einen geregelten Tagesablauf, ist bei seinen Kollegen unter Leuten, hat neue Freunde gefunden. Vera F. hofft, dass Philipp eines Tages wieder ohne Sorgen durch Landau gehen kann. Und dass ihre Familie eines Tages mit jenem 7. Juni 2024 abschließen kann.









