Familie

Kurzgeschichte: Die Stille hinter dem Drachen

Diese Kurzgeschichte gibt einen Einblick in einen typischen Abend bei Thilo und seinen Eltern.

Thilo hat seine Kopfhörer während des gesamten Abendessens auf.

Thilo hat seine Kopfhörer während des gesamten Abendessens auf.

Von Asra Emin

Der Tisch war schon gedeckt, als die Eieruhr grölte und Thilo zum Herd eilte. In der Pfanne brodelte ein cremiges Pilzragout, daneben stand ein übergroßer Topf, der mit Kartoffelbrei gefüllt war. Jetzt blieben noch knapp 20 Minuten, bevor seine Eltern durch die Tür gestürzt kamen, jeder von ihnen auf eine eigene Weise unzufrieden mit dem Arbeitstag. Entspannt ließ er sich auf den platten Einsitzer am Kamin fallen, grapschte mit einer Hand in die Seitentasche seiner Jeans, um die Tonspur seines Walkmans zu richten, mit der anderen griff er an den Beistelltisch und suchte seine Lektüre.

Die Wohnung füllte sich allmählich mit dem erdigen Duft der warmen Mahlzeit, während die vergilbten Seiten des Buches durch das Licht des flackernden Feuers beleuchtet wurden. Er rieb sich kurz die Hände und setzte voller Freude sein Buch fort: Der finale Kampf der zwei konkurrierenden Helden hatte ihn unter Hochspannung gelassen. Thilo sank nun immer weiter in den Sessel ein, durch seine Ohren strömte sein Lieblingslied.

Der rote Ritter drohte nun mit dem Beschwören eines Drachens, wohingegen der Blaue seinem Feind faules Spiel unterstellte. Die beiden lieferten sich ein feuriges Duell, einer taffer als der andere. Wer mag wohl gewinnen, der rote Ritter, der blaue? Der rote ist besonders intelligent und beherrscht Magie, wobei der blaue eine stärkere Rüstung hat und auch mehr Muckis – es ist so spannend, der Drache wird bestimmt das Ende entscheiden!

Wenige Augenblicke später wurde auch schon die schnörkelig verzierte Eingangstür aufgerissen und Margaret stürmte hinein. Thilo kannte ihre Routine in- und auswendig. Nach dem Zuknallen der Tür stellte sie zuerst ihre Tasche auf der Kommode ab, danach legte sie den Schlüssel in die Schale, seufzte tief beim Ausziehen und Aufhängen ihres ledernen Mantels und zog zu guter Letzt ihre Schuhe aus. Macht der Gewohnheit, fast schon Tradition.

Thilos Mutter begrüßte ihn mit einem stummen Lächeln und eilte dann direkt die Stufen zum Schlafzimmer hinauf. Die feinen Kleidungsstücke an ihrem Körper wuselten dabei nahezu willkürlich umher, ausschließlich ihre roten Locken waren noch einwandfrei in dem strengen Dutt verpackt.

Kaum war die Schlafzimmertür zugefallen, kam auch Hedwig nach Hause. Nachdem dieser rasch seine Arbeitsschuhe von den Füßen quer durch den Flur geschleudert hatte, trat er in das Wohnzimmer, zog seinen Hut ab, streichelte sich kurz über die stoppelige Halbglatze und grüßte Thilo mit einem Nicken. Auf der Brustfläche seiner blauen Latzhose waren Fettflecken in den unterschiedlichsten Tönen geschmiert, außerdem zog er den gewohnten Geruch von Benzin hinter sich her. „Mein Sohn, es riecht wunderbar. Ist deine Mutter schon zuhause? Ich habe einen Bärenhunger.“ Nun im Abendrock stolzierte Margaret die Treppe hinunter und erwiderte: „Tatsache, Thilo, mir ist der köstliche Geruch ja gar nicht aufgefallen. Hallo, Hedwig.“

Alle drei hatten sich sorgfältig an den runden Essenstisch gesetzt. Hedwig hatte, wie jeden Abend, sofort den Fernseher eingeschaltet – nach einem kurzen Knacken schallte auch schon das Nachrichtenprogramm penetrant durch den Raum. Margaret hingegen hing mit der Nase tief in der Zeitung, ihre Brille gekonnt auf der Nasenspitze balanciert, während sie sich abgelenkt einen Löffel nach dem anderen in den Mund schob. Thilo zog ungern seine Kopfhörer ab, so blieben sie auch während des gesamten Abendessens auf. Seine Eltern hatten das noch nie bemängelt.

„Margaret, unser Sohn ist ein Träumer“, sagte Hedwig mit vollgestopften Wangen, er gurgelte dabei ein wenig. Wundersamerweise verlor er dabei keinen Krümel. „Er hat schon wieder ohne Fleisch gekocht, wie soll ich denn meine Energie für den Tag morgen bekommen?“ „Du bist doch jetzt der Chef? Was musst du bitte groß tun, was dich so fertig und dreckig macht? Wieso bist du eigentlich schon wieder so schmutzig? Ich habe dich doch darum gebeten, dass du daheim deine Kleidung wechselst. In etwas Sauberes. Das gehört sich nun mal so!“ – „Hast du mir gerade eigentlich zugehört? Unser Sohn verfüttert mir Hasenfutter! So wird man doch nie satt!“ – „Ja, Hedwig. Ich weiß. Wir haben dieses Gespräch jeden Abend. Wie zwei kaputte Schallplatten. Es ist besser für uns, wenn wir mehr Gemüse essen. Das habe ich so in der Zeitschrift bei Annette gelesen.“ Margaret versenkte ihr Gesicht abschließend hinter einer weiteren Kolumne. Somit war das Gespräch ihrerseits beendet.

Mit großen Armbewegungen macht Thilo das Flugmuster des Drachens aus seiner Lektüre nach. 

Mit großen Armbewegungen macht Thilo das Flugmuster des Drachens aus seiner Lektüre nach. 

Mit bedrücktem Blick schob Hedwig das Essen auf dem Teller umher und aß mit theatralischer Langsamkeit an seiner Portion weiter. Thilo liebte es, seine Eltern beim Sprechen zu beobachten. Seine Musik war so laut, dass er vom Gesagten nichts mitbekommen hatte, so wirkten die beiden lediglich wie zwei Karikaturen, die ihre Münder auf und zu machten. Manchmal wurde eine Mimik verzogen – die Lippen gespitzt, mit den Augenbrauen gezuckt oder die Nase gerümpft. Ab und an erwischte er in der Bewegung seines Vaters vereinzelte Ticks, wie sein willkürlich zuckender Zeigefinger. Ihm war es auch gleich, was die beiden zu bereden hatten. Der rote und der blaue Ritter blieben im ewigen Duell, obwohl sie eigentlich ein gemeinsames Ziel verfolgten.

Margarets Blick wanderte allmählich zu Thilo, der sich vollständig in seiner Welt verloren hatte. Seine Arme waren schulterhoch gehoben, sein Kopf wippte in einem Takt von rechts nach links, während Disco-Musik in seine Ohren strömte. Man hörte stetig ein leises Pochen. Vor ihm türmte ein Berg Kartoffelbrei, durch welchen sich ein Fluss Rahmsoße kringelte – das Meisterwerk war aber schon halb gegessen. Auf Thilos Gesicht war ein leichtes Lächeln gemalt, seine Augen geschlossen. Früher waren Margaret und Hedwig gemeinsam auf Konzerte gegangen, jetzt haben sie sich in ihrem Alltag verloren. Das klirrende und knirschende Aufeinandertreffen von Stahl und Porzellan blieb die einzige Vertonung, der einzige gemeinsame Berührungspunkt.

Oh! Da ist also der Drache. Jetzt sind beide schachmatt, niemand kommt gegen seine Wucht an. Mit ausholenden Armbewegungen malte Thilo das Flugmuster des Drachens, imitierte seine prächtigen Flügel. Dank der rutschigen Wollsocken schlitterte er über den glatt geschliffenen Holzboden. Thilo begann in seinem Tanz den Tisch abzuräumen, was Margaret und Hedwig über sich ergehen ließen. Insgeheim waren sie froh drüber, immerhin hatten sie heute schwer geschuftet. Zusätzlich war beiden nach weniger als zehn gemeinsamen Minuten auch schon der Appetit vergangen. Schnell weg hier.

„Mir war schon klar, dass du mir nicht zuhören wirst. Du in deinem etepetete Bürostuhl wirst es nie verstehen, wie es ist, heimzukommen und noch das Pochen der Maschinen im Kopf zu haben und dann zusätzlich nichts Gescheites gedeckt zu bekommen!“ Erregt und mit einer Faust auf dem Tisch drehte Hedwig den Kopf von seiner Ehefrau weg. Er war ihr nicht einmal wütend, ihm hatte das Essen auch geschmeckt – die Müdigkeit machte ihn nur bockig. Außerdem wollte Hedwig damit die Aufmerksamkeit seiner Frau auf sich ziehen. Er hatte vergessen, wie das ohne Streit überhaupt möglich war. „Ich bitte dich, meine Arbeit ist ebenso essenziell wie deine. Den ganzen Tag muss ich mich mit dämlichen Beschwerden und der Unfähigkeit meiner Kollegen plagen, dann komme ich heim und dort wartet dasselbe Schicksal!“ Thilo glitt nun, mit dem dreckigen Geschirr auf seinen Händen gestapelt, im Wohnzimmer umher. Das Schleifen dieser Bewegung bildete einen Rhythmus, der Margarets zitternde Stimme untermalte.

Hedwig, Margarets Blick noch immer meidend, hob nervös sein Glas vom Tisch und trank zögernd einen Schluck. Danach setzte er es so schwermütig ab, dass man es mit einem Ziegelstein hätte verwechseln können. Das Tippen mit seinem Zeigefinger hatte Margaret Hedwigs Unbehagen verraten. In dem Moment war ihr bewusst geworden, wie fremd sie sich ihm eigentlich fühlte. Sie beobachtete Hedwig nun lediglich mit gespanntem Blick, bis ihr Mann den Kontakt erwiderte. „Ich werde versetzt, an die Ostküste. Nächste Woche muss ich schon dort sein“, er schluckte, sein Hals war völlig ausgetrocknet.

Margaret wandte ihren Blick ab, senkte ihren Kopf und fummelte an dem Ring an ihrer linken Hand. „Oh, aber ... das ... das ist selbstverständlich in Ordnung und passt tatsächlich auch in meine Pläne. Ich habe eine Reise nach Italien gebucht. Habe ich dir denn nicht davon erzählt? Ich muss es vergessen haben. Bis ich zurück bin, wird wohl Annette auf Thilo aufpassen müssen.“ Als sie das sagte, nickte sie.

Margaret brauchte Bestätigung für ihre eigenen Worte. Hedwig erhob sich schweigend und mit gesenktem Kopf vom Tisch. Er stützte sich dabei mit beiden Händen an der Kante des beständigen Möbelstücks ab und lächelte geistesabwesend. Nach einer ewigen Stille brachte er ein leises „Gute Nacht, Margaret“ über seine Lippen und schloss die Tür des Gästezimmers hinter sich. Aus dem Raum war ein Ziehen und Schieben zu hören, Hedwig hatte scheinbar die Schlafcouch ausgefahren.

Das Duell der Helden war auf einem Patt geendet. Der rote Ritter saß noch immer am Tisch, ihre Hände ineinander gefaltet. Sie starrte mit entschlossenem Blick auf die Tür des Gästezimmers. Nur ihr Atem verriet, dass sie sich noch in ihrem Leib befand. Margaret lauschte schweigend dem Lärm, der aus den Kopfhörern ihres Sohnes drang. Das Singen des Drachens. In solchen Momenten war sie immer auf Thilo eifersüchtig gewesen, welcher scheinbar nie seinen Zauber verliert. Sie hat sich vorgenommen, morgen Abend Hedwig zu fragen, ob er denn nicht mit ihr in die Disco gehen möchte – zum Tanzen. Ja, morgen ist gut.

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