Interview
Experte erklärt, warum immer mehr Kinder an Diabetes Typ 1 erkranken
Herr Dr. Marsak, viele glauben, Diabetes Typ 1 bekommt man, wenn man zu viel Zucker isst. Stimmt das?
Dr. Ondrej Marsak: Nein. Bei der Entstehung von Typ-1-Diabetes spielt die Ernährung überhaupt keine Rolle. Betroffene müssen sich also keine Vorwürfe machen, dass sie irgendetwas falsch gemacht haben.
Wie entsteht Diabetes Typ 1?
Es ist eine Autoimmunerkrankung. Das bedeutet, dass das Immunsystem irrtümlicherweise die Insulin-produzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse angreift und zerstört. Die Folge ist, dass der Körper kein eigenes Insulin mehr produzieren kann. Deshalb ist eine lebenslange Insulintherapie notwendig. Vor rund 100 Jahren wurde das erste tierische Insulin gewonnen, bis dahin starben Menschen mit Typ-1-Diabetes meist innerhalb weniger Tage.
Warum ist Insulin für unseren Körper überhaupt so wichtig?
Es ist das einzige Hormon, das den Blutzucker senken kann, indem es die lebenswichtige Energiequelle Zucker in die Körperzellen transportiert, wo sie benötigt wird.
Immer mehr Kinder und Jugendliche erkranken an Typ-1-Diabetes. Warum?
Besonders kleine Kinder sind vom Zuwachs betroffen. Allgemein nimmt die Zahl der Autoimmunerkrankungen zu. Warum unser Immunsystem heute häufiger als früher die eigenen Körperzellen angreift, ist nicht vollständig geklärt, aber vermutlich aufgrund von Veränderungen in unserer Umwelt und wegen unseres modernen Lebensstils. Ein eingeschränkter natürlicher Kontakt mit Mikroorganismen, Virusinfektionen, Veränderungen der Darmflora und Umweltchemikalien könnten das Gleichgewicht des Immunsystems stören und deshalb erkennt das Immunsystem eigene Zellen fälschlicherweise als gefährlich und zerstört sie.
Wie entsteht hingegen Typ-2-Diabetes?
Über 90 Prozent der Menschen mit Diabetes haben diese Form. Hier spielt der Lebensstil durchaus eine Rolle: Übermäßiger Zuckerkonsum, Übergewicht oder Bewegungsmangel können sie entstehen lassen. Die häufigste Ursache ist eine Insulinresistenz. Das bedeutet, dass die Bauchspeicheldrüse zwar genügend Insulin produziert, die Organe aber nicht ausreichend auf die Insulinwirkung reagieren. Dadurch kann der Körper den Blutzucker nicht genug senken.
Warum kann Diabetes lebensgefährlich werden?
Diabetes wird gefährlich, wenn er zu spät erkannt oder unzureichend behandelt wird. Immer noch wird bei vielen Kindern und Jugendlichen Typ-1-Diabetes leider erst diagnostiziert, wenn bereits eine lebensbedrohliche Situation entsteht, die sogenannte diabetische Ketoazidose, bei der das Blut übersäuert. Das erfordert häufig eine Behandlung auf der Intensivstation. Deshalb ist es wichtig, dass Eltern frühe Anzeichen erkennen. Bei Diabetes Typ 2 steigt der Blutzucker meist über Jahre langsam an und viele Menschen bemerken die Veränderung nicht. Das ist gefährlich, weil das Blut mit dem hohen Zuckergehalt ständig durch den Körper strömt und so jedes Organ langfristig geschädigt werden kann.
Gibt es Risikofaktoren für die Entstehung von Diabetes Typ 1?
Die meisten Menschen, die daran erkranken, haben in der Familie keine Fälle. Es gibt allerdings bestimmte Stellen im Erbgut, die das Risiko erhöhen können.
Was sind erste Symptome von Diabetes Typ 1?
Typisch ist ein enormer Durst, begleitet von häufigem Wasserlassen. Man trinkt drei bis vier Liter am Tag und ist trotzdem ständig durstig. Kleine Kinder können plötzlich wieder ins Bett nässen. Zu den Anzeichen gehört auch ein unerklärlicher Gewichtsverlust. Man isst normal und trotzdem nimmt man ab. Dazu kommen eine ständige Müdigkeit und Schwäche. Auch eine schnelle Verschlechterung des Sehvermögens kann ein erstes Anzeichen sein. Oft gehen die Betroffenen zunächst zu einem Optiker, der ihnen dann empfiehlt, den Blutzucker überprüfen zu lassen.
Wer erste Warnzeichen ignoriert, bekommt oft schon fortgeschrittene Symptome wie Bauchschmerzen mit Übelkeit und Erbrechen oder einen Acetongeruch – einen seltsamen Geruch aus dem Mund nach faulem Apfel oder Alkohol.
Gibt es eine Altersspanne, in der Diabetes Typ 1 meistens ausbricht?
Es ist die häufigste Stoffwechselerkrankung bei Kindern und Jugendlichen und bricht am häufigsten zwischen 5 und 15 Jahren aus. Nicht selten entwickelt es sich aber auch bis zum Alter von 30 Jahren.
Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?
In den vergangenen zehn Jahren gab es fast revolutionäre Fortschritte. Dennoch bleibt die Therapie bei den Betroffenen ein großer Bestandteil des Alltags: Die Basis ist immer noch, sich regelmäßig Insulin zu geben. Die meisten Patienten spritzen es mehrmals täglich mit Insulinpens unter die Haut. Damit man die richtige Dosis bestimmen kann, muss man den Blutzuckerwert kennen. Heute ist es fast schon Standard, dass Menschen mit Typ-1-Diabetes dafür einen Sensor verwenden, der mit einer winzigen Elektrode im Unterhautfettgewebe den Glukosegehalt alle paar Minuten misst. Die Daten werden dann über Bluetooth auf das Smartphone oder ein Lesegerät übertragen. Man wird auch über Alarme rechtzeitig informiert, wenn der Zuckerwert zu niedrig oder zu hoch ist. Mit so einem Sensor fallen unangenehme Fingerstiche weg.
Viele nutzen aber eine Insulinpumpe.
Ja, solche werden immer beliebter. Hier misst der Sensor den Zuckerwert und übermittelt ihn an die Insulinpumpe. Dort wird die Insulindosis jede Minute an den Bedarf angepasst und automatisch über eine dünne Nadel verabreicht. So eine Insulinpumpe übernimmt die Therapie aber noch nicht komplett allein. Für eine gute Funktion ist es immer noch wichtig, dass der Mensch mitarbeitet. So müssen beispielsweise Infos über die Mahlzeiten oder körperliche Aktivitäten eingegeben werden.
Ist Diabetes Typ 1 heilbar?
Noch nicht. Eine Transplantation von Insulin-produzierenden Zellen ist theoretisch eine Option. Diese Methode bringt jedoch viele Probleme mit sich: Damit das Immunsystem die fremden Zellen nicht abstößt, müsste es langfristig unterdrückt werden. Außerdem muss erst ein Spender gefunden werden. Daher ist die Behandlung nur für spezielle Einzelfälle geeignet. Es werden allerdings auch Insulin-produzierende Zellen erforscht, die aus körpereigenen Stammzellen hergestellt werden. Damit würden die Probleme der Abstoßung und der begrenzten Spender wegfallen. Die Forschung ist aber noch lange nicht abgeschlossen.
Für Betroffene
Der Diabetikerbund Bayern ist die größte Selbsthilfeorganisation für Menschen mit Diabetes in Bayern. Betroffene finden dort Möglichkeiten zum Erfahrungsaustausch mit anderen Betroffenen, gegenseitige Motivation, Info-Veranstaltungen und gemeinsame Aktivitäten wie die Diabetes-Camps für Kinder und Jugendliche. Weitere Infos findest du online unter diabetikerbund-bayern.de









