Reise
Finnland: Wenn der Feuerfuchs am Himmel jagt
Finnlands Winter ist gnadenlos. Minus 17 Grad zeigt das Thermometer an diesem Tag im Dezember am Flughafen von Rovaniemi. Dort beginne ich meine Reise, die mich nach einem Abstecher nach Oulu wieder zurückführt in die Stadt, die als Heimat des Weihnachtsmanns gilt. Kaum habe ich die Ankunftshalle verlassen, wird mir bewusst, dass ich hier mehr frieren werde als daheim. Lappland, so erzählte man mir auf dieser Reise immer wieder, erlebt in dieser Zeit die intensivste Form von Dämmerung, die man sich vorstellen kann.
Davon merke ich am ersten Abend allerdings noch nichts. Als ich ankomme, liegt bereits Dunkelheit über der Stadt. Die erste Nacht ist bitterkalt, doch bringt sie einen besonderen Moment: Kaum angekommen, zeigt sich ein fast wolkenloser Himmel und ein erstes Nordlicht, Aurora borealis genannt, tanzt über mich hinweg. Ich bin fasziniert und zugleich ganz ruhig – so, wie es die Samen ihren Kindern beibringen. Die mystischen Lichter, heißt es, darf man nicht anschreien, ihnen nicht zuwinken und auch nicht vor ihnen pfeifen. Und bei Tageslicht spricht man ohnehin nicht über sie. Das fällt hier allerdings nicht schwer, ist es doch höchstens drei bis vier Stunden am Tag hell.
In der Kultur der Samen galten Nordlichter als schlechtes Omen. Die Volksgruppe glaubte, in ihrem Leuchten die Seelen der Verstorbenen zu erkennen. Ganz anders sahen es die Wikinger: Für sie waren die Himmelslichter das Werk von Odins Walküren, die in den Schlachten jene Krieger auswählten, die fallen und nach Walhalla einziehen sollten. Die bunten Lichter entstanden ihrer Vorstellung nach durch das Mondlicht, das sich in den Rüstungen der Walküren widerspiegelte.
In Finnland trägt das Naturphänomen den Namen Revontulet, was „Feuerfuchs“ bedeutet. Der Sage nach jagten Polarfüchse über den nächtlichen Himmel, und wenn ihre Schweife die Berggipfel berührten, sprühten Funken in die Dunkelheit. Diese Erzählungen verleihen dem Phänomen bis heute einen Hauch von Magie.
Rovaniemi gilt als einer der besten Orte weltweit, um die Nordlichter zu beobachten – eine Garantie gibt es jedoch nie. Das Himmelsphänomen entsteht, wenn elektrisch geladene Teilchen des Sonnenwinds auf die Erdatmosphäre treffen. So kommt es zu den typischen grün-violetten bis rötlichen Farbtönen. Die Lage am Polarkreis und die klare, kalte Winterluft erhöhen in Lappland die Chancen, Nordlichter zu sehen. Dennoch braucht es Geduld und oft auch etwas Glück.
Apps helfen bei der Suche nach Nordlichtern
Nützlich sind spezielle Apps, die Sonnenaktivität und Bewölkung in Echtzeit auswerten. Ich verwende die App „Aurora Reach“. Trotzdem blieben einige meiner nächtlichen Ausflüge vergeblich, obwohl die App eine hohe Wahrscheinlichkeit vorhersagte. Am Ende entscheiden Sonnenwind, Wetter und Wolken darüber, ob sich das Polarlicht zeigt oder nicht.
Nach einer kurzen Nacht zieht es mich früh am Morgen schon wieder weiter. Das Ziel: die Europäische Kulturhauptstadt 2026. Von Rovaniemi sind es nur rund 220 Kilometer bis nach Oulu, der Küstenstadt am Bottnischen Meerbusen. Sie heißt auch „Stadt der 20 Minuten“. Durchaus passend, denn in 20 Minuten gelangt man mit Fahrrad oder Bus von einem Ende der Stadt zum anderen, steht mitten in der Natur oder schon am Strand der Ostsee.
In einem Lokal komme ich mit Nuuti Pulkkinen ins Gespräch. Der junge Mann studiert Tourismus, kennt seine Heimat in- und auswendig, ebenso wie die Geschichte Oulus: Die Stadt wurde vor 420 Jahren gegründet, und ihr bekanntestes Wahrzeichen ist die neoklassizistische Domkirche mit ihrem 56 Meter hohen Glockenturm. Dieser entstand vor nicht ganz zwei Jahrhunderten aus den Trümmern eines verheerenden Brandes und wurde vollständig neu errichtet.
Nicht weit vom Kirchplatz führt der Weg hinunter zum Mündungsdelta des Flusses Oulujoki – vorbei am Rathaus, das einst als luxuriöses Hotel und Restaurant diente und heute als stolzes Relikt aus der Blütezeit der Stadt gilt. „Hier hättest du gerne übernachtet, wenn du vor 120 Jahren zu Besuch gekommen wärst“, sagt Pulkkinen lachend. Bis heute ist das prächtige Gebäude ein beliebtes Fotomotiv, ebenso wie die kleine Burgruine Oulu Castle, die jedoch so bescheiden ausfällt, dass ich sie seither nur noch scherzhaft „Schlösschen“ nenne.

Visit Oulu
Für Ordnung in der finnischen Großstadt Oulu sorgt der Markpolizist „Toripolliisi“. Die nahe Markthalle bietet eine gute Möglichkeit, um der winterlichen Kälte so nah am Polarkreis zumindest zeitweise zu entfliehen.
Zum Abschied gibt mir mein neuer Bekannter noch einen Tipp, um der eisigen Kälte zu entkommen: „Schlendere durch ein paar Geschäfte, gönn dir einen heißen Kaffee oder Tee und wirf einen Blick in die Markthalle.“ Besonders die Kauppahalli, Oulus historische Markthalle, erweist sich als willkommene Abwechslung. Während die Halle selbst im Stil des späten 19. Jahrhunderts gemauert ist, verleihen die naheliegenden alten Lagerhäuser und Salzspeicher aus Holz dem Marktplatz eine ganz eigene Atmosphäre. In der Markthalle reihen sich Stände mit frischem Fisch, regionalen Spezialitäten und Souvenirs aneinander.
Vor dem Gebäude steht eine kleine Berühmtheit: der bronzene Marktpolizist Toripolliisi. Die rundliche Statue wurde im Herbst 1987 errichtet und erinnert an die Polizisten, die einst auf dem Marktplatz für Ordnung sorgten. Das muss an diesem kalten Wintertag jedoch niemand. Es ist fast nichts los, ganz anders der Trubel Rovaniemis, wohin ich mit dem Zug in nur etwas mehr als zwei Stunden zurückreise.
Lappland, die Heimat des Weihnachtsmanns
Im finnischen Winter hat man manchmal das Gefühl, Realität und Mystik würden verschwimmen. Vielleicht liegt das an der Dunkelheit, die einen über viele Stunden des Tages begleitet und vom hellen Strahlen des Schnees durchbrochen wird. Ein großer Vorteil von Rovaniemi ist, dass man nie weit hinaus muss, um Natur und das Winterwunderland zu erleben.
Die Fichten und Birken sind an diesem Tag mit Schnee bedeckt, und bei Temperaturen um den Gefrierpunkt ist es angenehm mild. Am Fuß des Ounasvaara, des 204 Meter hohen Hausbergs von Rovaniemi, gibt es mehrere hölzerne Aussichtsplattformen, die einen Rundumblick bieten. Auch der kurze Aufstieg zum Gipfel des Bergs belohnt mit der Aussicht über die weite Winterlandschaft und hinunter auf Rovaniemi. Besonders im sanften Licht der erst gegen Mittag langsam aufgehenden Sonne liegt über der Landschaft eine fast märchenhafte Stille. Ein Moment, in dem man verstehen kann, was mit dieser Magie des Nordens gemeint ist.
Man kann sich lebhaft vorstellen, wie der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten, gezogen von seinen neun Rentieren, durch den verschneiten Wald zu seiner geheimnisvollen Heimat am Korvatunturi, dem „Ohrenberg“ nahe der russisch-finnischen Grenze, hinübergleitet. Dort, so erzählt man, lebt der Joulupukki, wie der Weihnachtsmann auf Finnisch heißt, gemeinsam mit seiner Frau und einer Schar fleißiger Wichtel, die eifrig Geschenke für Kinder in aller Welt vorbereiten.
Der Weg hinauf zum Korvatunturi soll beschwerlich sein, durchzogen von Bächen, Felsen und tiefem Schnee. Vielleicht empfängt Santa Claus deshalb seine Besucher lieber in seinem Weihnachtsdorf am Polarkreis in Rovaniemi. Hier treffe ich den Weihnachtsmann. Das ist aber gar nicht so einfach. So unromantisch das nun klingt: Ich bezahle dafür, reihe mich in eine beeindruckend lange Warteschlange ein und spätestens nach einer halben Stunde frage ich mich, ob es nicht auch lukrativ wäre, am Nordkap einen Glühwein- und Bratwurst-Stand zu eröffnen.

Visit Rovaniemi
Der Weihnachtsmann in seinem Büro in Rovaniemi: Hier empfängt er seine Besucher aus der ganzen Welt.
Endlich am Ziel werde ich von einem erstaunlich echten Weihnachtsmann begrüßt: mit weißem, wallendem Bart, bodenlangem rotem Umhang und einer rauen, zugleich aber warmen Stimme. Es fällt mir überraschend leicht, mich in meine eigene Kindheit zurückzuversetzen, in jene Zeit, in der ich noch an den Weihnachtsmann, den Nikolaus und das Christkind glaubte.
Der „Joulupukki“ hat es eilig: Es warten ja mehr
Doch dann geht alles ganz schnell, schließlich warten noch unzählige andere Gäste aus aller Welt. Freundlich fragt er mich, wie es mir geht und woher ich komme, doch vor lauter Aufregung stammle ich nur irgendetwas davon, dass es mir gut geht und ich aus Bayern komme. Zum Abschied überreicht er mir noch ein kleines Geschenk, das ich zuvor brav bezahlt habe. Er wünscht mir „Merry Christmas“, und schon ist der Moment vorbei. Im Postamt nebenan schreibe und versende ich noch ein paar Postkarten in die Heimat – so wie viele andere Besucher auch. Inmitten dieser finnischen Winternacht, umgeben vom sanften Schein der Lichterketten, der Stille und der klirrenden Kälte, spüre ich sie tatsächlich: diese besondere, fast kindliche Weihnachtsmagie.
Das Weihnachtsmanndorf nahm seinen Anfang mit einer einfachen Holzhütte, die 1950 anlässlich des Besuchs von Eleanor Roosevelt, der Witwe des ehemaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, errichtet wurde. Sie reiste damals in den Norden Finnlands, um im Auftrag der Vereinten Nationen den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg zu unterstützen.

Maximilian Pleier
Den Polarkreis überqueren und Santa Claus treffen – beides ist im 1985 eröffneten Weihnachtsmanndorf möglich.
Roosevelt wollte auf ihrer Reise die Mitternachtssonne erleben und den Polarkreis überqueren. Weil es dort nur unberührte Wildnis gab, ließ man eigens für sie eine kleine Holzhütte bauen: die „Roosevelt-Hütte“. Sie steht noch heute und markiert den Beginn des späteren weihnachtlichen Dorfs, das 1985 offiziell eröffnet wurde. Begeistert schrieb Roosevelt später in ihren Memoiren über den Ort und löste damit ein weltweites Interesse aus. Die Region nutzte die Aufmerksamkeit geschickt, und der Ort zieht seither unzählige Besucher an.
Viele Geschichten und Bücher verfestigten den Ruf Rovaniemis als Heimat von Santa Claus, darunter das berühmte Bilderbuch von Mauri Kunnas Wo der Weihnachtsmann wohnt aus den 1980er-Jahren. Dabei war in Finnland längst bekannt, wo er wirklich lebt – schon 1927 hatte der Radiomoderator Markus Rautio verkündet, dass der Weihnachtsmann mit seinen Wichteln am Korvatunturi Geschenke für Kinder auf der ganzen Welt vorbereitet. Und irgendwo dort, zwischen verschneiten Wäldern und dem Polarlicht am Himmel, sitzt der Joulupukki, liest die Briefe aus aller Welt und lässt die weihnachtliche Magie jedes Jahr lebendig werden.











