Abschied nehmen

Wie ein Entrümpler das letzte bisschen Leben aussortiert

Ali Nihal und sein Entrümpelungsteam aus Regensburg bekommen intimste Einblicke in verschiedenste Leben – selbst dann, wenn es eigentlich kein Leben mehr gibt.

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Erst, wenn die Polizei die Wohnung freigibt, darf das Siegel gebrochen werden.

Erst, wenn die Polizei die Wohnung freigibt, darf das Siegel gebrochen werden.

Von Veronika Bigler

Es ist gerade einmal 9 Uhr und schon 30 Grad heiß an diesem Sommertag in Nittenau. „Versiegelt“ steht in Großbuchstaben auf einem zerrissenen Aufkleber an einer Terrassentür eines Wohnhauses/einer Wohnung in der Kleinstadt im Kreis Schwandorf. Mit dem ersten Schritt in das Wohnzimmer steigt eine Mischung aus Rauch und alter Möbel in die Nase. Ziemlich stickig, wahrscheinlich wurde schon länger nicht mehr gelüftet. „Zum Glück kein Leichengeruch“, sagt Ali.

Der große Raum wirkt kitschig, aber trotzdem gemütlich. Zwei gemusterte Teppiche, zwei „Canapés“, zwei Couchtische und zwei größere Schränke voll mit Krimskrams füllen den Raum aus. Obwohl es Hochsommer ist, steht ein kleiner Weihnachtsmann aus Schokolade in einem der Schränke. Gleich daneben eine verstaubte, khaki-grüne Schreibmaschine. Beim Blick auf einen der Couchtische wird klar, woher der Rauchgeruch kommt: ein Aschenbecher bis zum Rand gefüllt mit Zigarettenstummeln, daneben eine halbvolle Schachtel und ein Feuerzeug. Mitten im Zimmer ein Bügelbrett und etwas Wäsche. Es scheint, als hätte die Bewohnerin nur kurz den Raum verlassen, doch in Wahrheit ist sie für immer gegangen. Jetzt ist es die Aufgabe des Rümpelteams, das letzte bisschen Leben aus der Wohnung heraus zu räumen.

Ein Mann, der vieles kann – doch auch an seine Grenzen stößt

Ali Nihal, ein charismatischer Regensburger mit freundlichen braunen Augen und einem Dreitagebart, ist der Gründer des Rümpelteam Bayern Jun. Seit über acht Jahren ist der 45-Jährige mit seinem Team aus sechs Mitarbeitern in ganz Bayern unterwegs, um Wohnungen, Häuser oder Unternehmen leerzuräumen. Der „kurdische Bayer“, wie er sich selbst mit einem Schmunzeln bezeichnet, hat schon viele Erfahrungen in Sachen Arbeit gesammelt. Zuerst war er als Rohrleitungsbauer tätig. Doch durch diese Arbeit haben ihn seine Frau und Kinder immer seltener zu Gesicht bekommen und er fasste den Beschluss, eine eigene Reinigungsfirma zu gründen.

Auch die Laster einer Person können in ihrer Wohnung wiedergefunden werden.

Auch die Laster einer Person können in ihrer Wohnung wiedergefunden werden.

Nach einiger Zeit hat Ali Nihal dann den Auftrag bekommen, der alles veränderte: Er sollte ein Haus entrümpeln. Dabei wurde ihm klar, dass ihm diese Arbeit besser gefällt. Keine Anrufe mehr morgens um halb drei, um ein gewisses Putzmittel zu besorgen. Statt 30 nur noch sechs Angestellte. Kleiner, feiner, Familie – einfach perfekt. Nebenbei hat er sich noch als Tatortreiniger und Schlüsseldienst zertifizieren lassen. Somit kann er ab der Freigabe des Siegels durch die Polizei alles selbst erledigen. Mittlerweile ist Ali nicht mehr der Firmeninhaber, sondern sein 22-jähriger Sohn Sidar. „Auf den kann ich mich verlassen“, sagt der Regensburger und lächelt. Nachdem Ali letztes Jahr im September einen Schlaganfall erlitten hat, ihm bewusst geworden, dass er etwas zurückrudern muss.

Zwischen Zerstörer und Psychologe – die Aufgaben eines Entrümplers

Zurück in Nittenau. Auch wenn Ali nichts über die Mieterin weiß, offenbart die Wohnung selbst ein Bild von einer Person, die hier gelebt haben könnte. Vermutlich eine ältere Dame. Das verrät die eher altmodische Einrichtung der Zimmer und die Kleidung, die in den Schränken im Schlafzimmer zum Vorschein kommt. Im Flur hängt ein Kreuz und immer wieder sind kleine Engel-Figuren zu sehen. Nicht nur diese Details, sondern auch das Schild über der Eingangstür mit der Aufschrift „Herr segne dieses Haus und alle, die da gehen ein und aus“, geben preis, dass die Bewohnerin wahrscheinlich gläubig war. Vielleicht war sie auch von klassischer Musik begeistert, denn an den Wänden im Wohnzimmer hängen Bilder von den Werken berühmter Komponisten wie Bach und Händel. Auf einem Tisch im Wohnzimmer befindet sich ein Blutdruckmessgerät. Auch sonst tauchen immer mal wieder Medikamentenpackungen auf, die die ein oder andere Gesundheitsfrage aufwerfen.

Ein Foto, das mehr über das Aussehen der Frau verrät oder Familienbilder sind nicht aufzufinden – vielleicht wurden sie schon von den Angehörigen geholt? Für Fragen und Vermutungen wie diese hat das Team jedoch keine Zeit. Heute sind sie nur zu fünft am Werk. Zwei sind in der Küche. An den Schranktüren der Küche und am Fensterbrett wimmelt es von kleinen Mücken. Neben zahlreichen Spinnenweben in den verschiedenen Ecken der Räume und den vertrockneten Pflanzen auf der Terrasse sind sie ein Zeichen dafür, dass die Wohnung wohl seit längerem unbewohnt ist. Lautes Scheppern und Klirren ist zu hören. Porzellan, Kochtöpfe und andere Küchenutensilien häufen sich in unterschiedlichen Wannen oder Plastiksäcken. „Meistens beginnen wir in der Küche und arbeiten uns dann Raum für Raum vor“, sagt Sidar. Zuerst das Kleine, dann das Große. Erst wenn die Schränke und Regale leergeräumt sind, kann man sie abmontieren.

Ali (rechts) und sein Sohn Sidar (links).

Ali (rechts) und sein Sohn Sidar (links).

Während Sidar seine Crew koordiniert, spricht sein Vater mit der Auftraggeberin. Dabei witzelt er mit ihr und überreicht ein Schlüsselprotokoll, das für sie eine Sicherheit darstellt. Ali ist es wichtig, den Kunden zu zeigen, dass man ihm und seinem Team vertrauen kann. Vertrauen spielt eine große Rolle im Beruf der Entrümpler. Ali und seine Leute sind Fremde für ihre Kunden und doch tauchen sie für einen gewissen Zeitraum in das intime Innenleben von diesen Menschen ein. Der 45-Jährige erzählt von einem Fall, bei dem nicht einmal die Familie selbst von den gewissen sexuellen Vorlieben ihres Angehörigen wusste. Dann haben Ali und seine Crew die Gegenstände so zerkleinert, dass keiner aus der Nachbarschaft erkennen konnte, was in der Wohnung vorgegangen ist. Zufriedene Kunden, guter Ruf, mehr Aufträge. So funktioniert das Geschäft.

Die Aufträge können dabei verschiedenster Art sein. „Das ist so, wie ein Überraschungsei für Kinder“, witzelt Ali. Wie viele Aufträge er im Monat hat, das kann er nicht genau sagen: „mal sind es mehr, mal weniger“. Neben Wohnungsauflösungen wie diese gibt es auch das Entrümpeln von Firmen oder Messie-Haushalten. Bei letzterem ist er fast jede Woche. „Da muss man manchmal auch Psychologe sein, um diese Leute davon zu überzeugen, dass man hier jetzt arbeiten muss. Für manche ist es Müll, für andere Reichtum“, erzählt der Regensburger. Wenn Ali und sein Team aufräumen, bittet er die Angehörigen darum, sich fernzuhalten. „Das ist einfach mit zu vielen Emotionen verbunden.“ Da fällt es einem schwer, seine Arbeit zu verrichten.

Aufräumarbeiten in der Küche. Direkt beim Ausräumen wird der Müll getrennt.

Aufräumarbeiten in der Küche. Direkt beim Ausräumen wird der Müll getrennt.

Loslassen und Weitergeben

„Man muss auch lernen, loszulassen. Da sind wir knallhart“, sagt Ali. Gnadenlos werden verschiedenste Gegenstände in Wannen geworfen und danach mit festen Stößen zerschlagen. Dann landet fast alles auf dem Müll. Fast alles. Vor dem Entrümpeln sieht sich der Rümpel-Chef bei einer kostenlosen Terminvereinbarung die Wohnung oder das Haus genauer an und prüft, ob er das ein oder andere in seiner Flohmarkt-Halle am Ostbahnhof neun in Regensburg verkaufen kann. Falls ja, wird ein gewisser Preis den Kunden angerechnet und ein kleiner Teil geht als Provision beim Verkauf an Ali. Beispielsweise wird für einen Schrank 40 Euro vom Preis für die Entrümplung beim Kunden abgezogen und der Schrank für 50 oder 60 Euro im Flohmarkt verkauft. Vieles wird aber auch an gemeinnützige Organisationen gespendet. „Das tut der Seele gut, wenn man etwas schenken kann“, sagt der 45-Jährige.

Die Wohnung in Nittenau gibt jedoch kaum etwas für den Flohmarkt oder zum Spenden her. Da im Haus geraucht wurde, bleibt der Geruch in den Möbeln und viele weitere Gegenstände können aus hygienischen Gründen nicht weitergegeben werden. Wie viel so eine Entrümpelung genau kostet, kann Ali nicht sagen. Das ist von vielen unterschiedlichen Faktoren, wie beispielsweise der Größe der Wohnung und den Entsorgungskosten, abhängig. „Meine fünfköpfige Familie kann auf jeden Fall von den Einnahmen leben, aber reich wird man damit nicht“.

Nichts mehr, das bleibt

Nach zwei Tagen ist die Wohnung in Nittenau völlig leergeräumt. Nichts mehr ist übrig. Kein Teppich. Keine Zigaretten. Nicht einmal die Nägel, an denen die Bilder hingen, sind noch da. Nichts, was in irgendeiner Art und Weise zeigt, wer hier gelebt hat. „Wir müssen alle irgendwann gehen und keiner kann etwas mitnehmen – egal, wie reich oder schön man ist. Das ist die einzige Gerechtigkeit“, sagt Ali Nihal.

Veronika Bigler studiert in Passau Journalistik und strategische Kommunikation. Ihr Beitrag ist in einer Lehrredaktion entstanden, die in dem Studiengang integriert ist. Die Lehrredaktion wird von Redakteuren unserer Mediengruppe betreut.

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