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Warum Schauergeschichten heute noch faszinieren


Die Zeichnung zeigt eine "Drud". Sie ist ein Wesen des Volksglaubens, das sich in der Nacht auf die Brust eines schlafenden Menschen setzt und Angst und Atemnot verursacht. Dem Volksglauben nach kann sich der Schlafende von der Drud befreien, in dem er ihr etwas Schwarzes verspricht. Die Drud holt den Erzählungen nach den versprochenen Gegenstand am nächsten Tag ab und lässt den Menschen in Ruhe.

Die Zeichnung zeigt eine "Drud". Sie ist ein Wesen des Volksglaubens, das sich in der Nacht auf die Brust eines schlafenden Menschen setzt und Angst und Atemnot verursacht. Dem Volksglauben nach kann sich der Schlafende von der Drud befreien, in dem er ihr etwas Schwarzes verspricht. Die Drud holt den Erzählungen nach den versprochenen Gegenstand am nächsten Tag ab und lässt den Menschen in Ruhe.

Druden, die einem die Luft abschnüren. Tote Grenzsteinverrücker, die ihre Schuld noch nicht beglichen haben. Und eine Mutter, die alles opfert, um ihren Sohn zu retten: Kreisheimatpfleger Karl-Heinz Reimeier aus dem Landkreis Freyung-Grafenau sammelt seit fast 40 Jahren Geschichten aus der Zwischenwelt und sagt, dass selbst heute in unserer aufgeklärten Welt Unerklärliches geschehen kann.

Es ist Ende Oktober. Allerheiligen steht vor der Tür. Draußen wird es duster, so duster, dass man seine Hand kaum vor den Augen sieht. Der Wind heult draußen in der Nacht, ein Knarzen, ein Pochen, ein Schlag. Die Angst kriecht einem in die Knochen. Alles nur geträumt, sagt man sich. Alles nur geträumt? Heimatpfleger Karl-Heinz Reimeier erzählt im Interview von armen Seelen, die keine Ruhe finden, und warum die Menschen heute noch an Geschichten über Wiedergänger glauben.

Herr Reimeier, glauben Sie an Geister?

Reimeier: Das ist eine Frage, die wird mir ständig gestellt. Ich sage immer folgendes: Ich habe ein Erlebnis selber gehabt, also gibt es für mich was, das man sich nicht erklären kann. Wenn ich gefragt werde, ob ich den Leuten die Geschichten glaube, die sie erzählen, dann sage ich immer ja. Die meisten Leute erzählen mir das mit einer Ehrlichkeit und einem Vertrauen, dass ich ihnen glaube, dass sie das wirklich erlebt haben, auch wenn ich das nicht verstehen kann. Ob ich dann die Geschichten selber glaube, kann ich nicht genau sagen.

Welches Erlebnis war das, das Sie sich bis heute nicht erklären können?

Reimeier: Ich habe damals Haus gebaut und hatte einen Schreibtisch von meinem Opa geerbt, der ziemlich groß und schwer war. Den habe ich von seinem Haus zusammen mit meinem Vater in mein neues Haus gebracht. Ich habe den Schreibtisch immer vor das Fenster hingestellt, dass ich Licht hätte, wenn ich ihn einmal brauche. Und dann haben wir weiter am Haus gearbeitet und am Abend das Haus zugesperrt. Und am nächsten Tag ist er weggerückt gewesen und wieder so gestanden, wie er bei meinem Großvater stand. Das ist drei Nächte so gegangen, dass mein Vater und ich schon gesagt haben, sowas gibt es nicht. Bis wir den Schreibtisch wieder zurückgebracht haben, weil ich so nicht arbeiten konnte. Das haben wir uns nicht erklären können - bis heute nicht. Das war in den 70er Jahren.

Woher kommt Ihr Interesse für "Weihraz-Geschichten"?

Reimeier: Ich bin Heimatpfleger in unserem Landkreis. Aber auch davor hat mich das immer schon interessiert, wie die Leute früher gelebt haben und wie das soziale Umfeld war. Ich bin Anfang der 80er zu den Leuten gefahren und hab sie befragt. Und da haben sie mir Sachen erzählt, wie sie Gehalt und Lohn empfangen haben, wie sie gekocht haben, wie sie gesungen haben. Und unter anderem sind da immer so Geschichten angefallen, die so unerklärlich waren, die ich aufgehoben habe. Als das im Lauf der Zeit immer mehr wurde, habe ich gemerkt, da muss ich etwas machen, da steckt so viel Substanz dahinter, dass es das wert ist, das auch zu veröffentlichen.

Was bedeutet "weihraz"?

Reimeier: Das "weihrazn" ist eine Abwandlung des Wortes "weizen". "Es weizt" heißt zum Beispiel "als arme Seele umgehen". Es stammt aus dem Althochdeutschen, ist ein 800 Jahre altes Wort. Also die Weize ist eine arme Seele, die nicht erlöst ist, die aus dem Fegefeuer zurück muss und jemand sucht, der sie erlösen kann.

Wie in der Geschichte mit dem verrückten Grenzstein.

Reimeier: Die Geschichte mit dem Grenzstein ist dabei eine sehr bekannte Geschichte. Sie hat den Ursprung im Mittelalter, als Eigentum einen ganz besonderen Wert hatte. Wenn da jemand das Waldgrundstück oder die Wiese um einen Meter verrückt hat, dann war das eines der größten Vergehen überhaupt. Die im Gesetzbuch verankerte Strafe war, dass solche Leute entweder enthauptet wurden oder ihnen sogar mit dem Pflug der Kopf abgetrennt wurde. Das steigert sich natürlich in den Köpfen der Leute und darum werden die Grenzverrücker immer als Menschen ohne Kopf dargestellt, die ihren Kopf oder den Grenzstein unter dem Arm tragen und immer jammern, wo sie ihn denn hintun sollen. Wenn Sie jetzt an Allerheiligen vielleicht einmal zwischen Mitternacht und ein Uhr spazieren gehen und jemanden so jammern hören, dann dürfen sie nicht davon laufen, sondern müssen den Grenzstein dorthin legen, wo er hingehört, dann ist derjenige erlöst.

In dem Vorspann Ihres ersten Buches schreiben Sie, dass Sie nicht nach dem Kriterium der Spannung aussortieren. Wie gehen Sie vor, wenn Sie die Erzählungen dokumentieren?

Reimeier: Ich gehe mit einem Diktiergerät zu den Leuten. Inzwischen ist das ein sehr kleines Gerät. In den 80er Jahren hatte ich noch einen Kassettenrekorder mit Mikrofon, das hat die Menschen so gehemmt, dass ich dort vier- fünfmal hingehen musste, bis die Leute überhaupt etwas locker wurden. Aber wenn das Gerät so klein ist, dass sie es kaum sehen, reden sie viel eher frei weg von der Seele. Mittlerweile kennen mich die Leute und wissen, dass sie mir vertrauen können, dass ich sie nicht auslache. Ich weiß ja, dass sie darunter leiden. Mir ist es ganz wichtig, dass ich die Geschichte genau so notiere, wie sie erzählt wurde. Mir geht es nicht nur um die Geschichte, sondern auch um die Sprache, die Mundart. Für die Leser habe ich die Geschichten aber auch in die Schriftsprache übersetzt.

Der Heimatpfleger Karl-Heinz Reimeier hat bereits zwei Bände zu "Weihraz-Geschichten" veröffentlicht. Beide sind im Verlag Lichtland in Freyung erschienen.

Der Heimatpfleger Karl-Heinz Reimeier hat bereits zwei Bände zu "Weihraz-Geschichten" veröffentlicht. Beide sind im Verlag Lichtland in Freyung erschienen.

Wie werden Sie auf Leute aufmerksam, die Geschichten zu erzählen haben?

Reimeier: Damals habe ich das so nebenbei erfahren, wenn ich zum Beispiel die Lieder aufgeschrieben habe, die die Leute gesungen haben. Dann bin ich zu den Leuten nochmal hingefahren und es ging dieses Mal speziell um die Geschichten. Und die haben wieder jemanden gekannt, zu dem ich gehen sollte. Mittlerweile hat es sich so ergeben, dass ich aus der Schweiz, Südfrankreich oder sogar aus Istanbul Geschichten bekomme. Ich versuche aber immer, wenn es möglich ist, den direkten Kontakt zu suchen. Ich fahre dann auch hin, um das Haus kennenzulernen, weil man da ganz anders in die Geschichten reinkommt. Die Begegnungen mit den Menschen sind fast interessanter als die Geschichten selber. Wenn sie so einen Glanz in den Augen bekommen, fast zu weinen und zu zittern beginnen, weil plötzlich die Angst wieder da ist. Aber wenn sie es erzählen, sind sie meistens erleichtert.

Welche Geschichte hat sich im Laufe der Zeit bei Ihnen besonders eingebrannt?

Reimeier: Eine Geschichte, die mich sehr beschäftigt, ist in meinem zweiten Band drin. Sie stammt aus einem Dorf nahe der Grenze zu Tschechien. Da geht es um eine Familie, die insgesamt 18 Kinder gehabt hat, 17 Mädchen und ein Bub. Das war um etwa 1910. Es war eine Zeit, da waren Buben, gerade auf Bauernhöfen, viel mehr wert als Mädchen. Wegen der Vererbung und so weiter. Drei der Mädchen waren in Augsburg in einer Weberei angestellt und haben der Familie immer Geld heimgeschickt. Und der einzige Bub wird so krank, dass es spitz auf Knopf steht. Die Mutter ist selbst ausgemergelt und weiß sich nicht zu helfen. Sie möchte, dass der Bub überlebt. Sie geht in der Nacht auf den Balkon und betet ganz laut "Lieber Gott, lass mir meinen Buben, nimm mir dafür lieber meine drei ältesten Töchter."

Das haben aber zwei kleine Mädchen im Haus gehört und eine davon war total erschrocken und hat mir die Geschichte dann erzählt. Man muss sich das vorstellen: Der Bub ist von diesem Tag an nach und nach gesund geworden. Aber im Lauf der nächsten zwei Jahre sind diese drei Mädchen tatsächlich gestorben. Und das geht mir so nah, vor allem weil ich die Frau kenne, die das von ihrer Mutter gehört hat.

Die Zeichnung zeigt eine "Drud". Sie ist ein Wesen des Volksglaubens, das sich in der Nacht auf die Brust eines schlafenden Menschen setzt und Angst und Atemnot verursacht. Dem Volksglauben nach kann sich der Schlafende von der Drud befreien, in dem er ihr etwas Schwarzes verspricht. Die Drud holt den Erzählungen nach den versprochenen Gegenstand am nächsten Tag ab und lässt den Menschen in Ruhe.

Die Zeichnung zeigt eine "Drud". Sie ist ein Wesen des Volksglaubens, das sich in der Nacht auf die Brust eines schlafenden Menschen setzt und Angst und Atemnot verursacht. Dem Volksglauben nach kann sich der Schlafende von der Drud befreien, in dem er ihr etwas Schwarzes verspricht. Die Drud holt den Erzählungen nach den versprochenen Gegenstand am nächsten Tag ab und lässt den Menschen in Ruhe.

Was fasziniert die Menschen gerade vor Allerheiligen so an "Weihraz-Geschichten"?

Reimeier: Es liegt an der Jahreszeit, wenn es düster wird. Im Finsteren spielen sich solche Geschichten ab und um Allerseelen erst recht, weil die armen Seelen dabei eine ganz wichtige Rolle spielen. Je schwerer die Sünden waren, desto länger mussten sie im Fegefeuer sein. Dort konnten die armen Seelen nichts mehr für sich selber tun. Sie waren auf die Unterstützung ihrer Hinterbliebenen angewiesen. Viele haben Heilige Messen aufschreiben lassen, haben gebetet, der Rosenkranz war sehr wichtig. Oder man ist an Allerheiligen/Allerseelen aufs Grab gegangen und hat ein Licht angezündet.

Aber es hat arme Seelen gegeben, die haben zu Lebzeiten solche schwere Sünden begangen, dass sogar das Fegfeuer zu schwach war. Die haben gerade zu Allerheiligen die Möglichkeit bekommen, auf die Erde zurückzukehren, die sogenannten Wiedergänger. Sie durften zurück in ihre gewohnte Umgebung, zum Erscheinen als Lichtlein, die man durch ein Gebet erlösen konnte. Das waren im Volksglauben beispielsweise Mörder, Henker oder auch Grenzsteinverrücker. Es ist schon so, dass die Leute an so etwas noch heute glauben - gerade an das Grenzstein verrücken.

Funktionieren die "Weihrazgeschichten" heute noch genauso wie früher oder haben wir durch moderne Technik und Aufgeklärtheit schon das Gespür für Übernatürliches verloren?

Reimeier: Es gibt auch Geschichten die mit der neuen Technik, die in den Häusern eingebaut ist, spielen. Mit denen habe ich mich nur nebenbei befasst. Ich kenne aber mehrere junge Menschen zwischen 20 und 40 Jahren, die sehr darunter leiden, dass sie solche Geschichten erleben. Eine Verkäuferin, die sich mit ihrer Familie bei uns herin ein Haus gekauft hat, in dem einer mit 95 Jahren gestorben ist. Dieser Mann erscheint ihr, er setzt sich an die Bettkante hin, wo man dann den Abdruck sieht, wie er die Matratze runterdrückt. Die Frau hat mit Pfarrer und Psychologen alles versucht, dass es aufhört. Solche Geschichten gibt es Unmengen.

Karl-Heinz Reimeier wurde im Jahr 1949 in Grafenau geboren, hat in Regensburg an der erziehungswissenschaftlichen Fakultät studiert und arbeitet als Kreisheimatpfleger für den Landkreis Freyung-Grafenau. Er wurde mehrfach ausgezeichnet und hat mehrere Bücher geschrieben - darunter auch die beiden Bände "Wenn's weihrazt" - Geschichten aus der Zwischenwelt und "Wenn's weihrazt" - Neue Geschichten aus der Zwischenwelt".