Verfassungsrechtler im Interview

Thorsten Kingreen: „Leben in einer Verkündungsdemokratie“


"Diese diskursfreie Durchregieren der Exekutive ist nicht hinnehmbar", sagt der Regensburger Verfassungsrechtler Thorsten Kingreen.

"Diese diskursfreie Durchregieren der Exekutive ist nicht hinnehmbar", sagt der Regensburger Verfassungsrechtler Thorsten Kingreen.

In der Zeit des ersten Lockdowns hat der Verfassungsrechtler Thorsten Kingreen von der Universität Regensburg vor den Folgen des Ausnahmezustands gewarnt - und davor, was ein verengter Diskurs mit einer demokratischen Gesellschaft macht. Im Interview mit idowa zieht der Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Gesundheitsrecht eine Zwischenbilanz.

Herr Kingreen, zum Zeitpunkt unseres ersten Interviews im Mai lag alle Macht in der Hand der Exekutive, das Parlament war nur noch Zaungast. Was hat sich zwischenzeitlich geändert?

Thorsten Kingreen: Einiges hat sich nicht geändert, anderes schon. Bedrückend konstant müssen wir feststellen, dass wir die Pandemie bislang nicht in den Griff bekommen haben. Aber wir haben in der Zwischenzeit nicht nur sehr viel über das Virus selbst, sondern auch über den politischen Umgang mit ihm gelernt. Die verfassungsrechtliche Kritik auch in unserem Interview aus dem Mai, dass die Parlamente und zwar insbesondere der Bundestag die Entscheidung über fundamentale Grundrechtseinschränkungen weitgehend der Exekutive überlassen haben, ist im Herbst dann doch noch in der Politik angekommen. Mit der Novelle des Infektionsschutzgesetzes hat man zumindest versucht, genauere rechtliche Vorgaben für einen Lockdown zu machen.

Sie sagen: "versucht". Ist es nicht gelungen?

Kingreen: Zunächst sollte man einmal festhalten, dass es ja positiv ist, wenn wissenschaftliche Kritik in der Politik gehört wird; ich habe hier in den vergangenen Monaten mit fast allen politischen Parteien sehr gute Erfahrungen gemacht. Wir waren und sind ja alle unsicher, und das hat bei vielen auch das Bedürfnis ausgelöst, dass man aus Erfahrungen und gegenseitig voneinander lernen möchte. Dass die gesetzlichen Vorgaben für die Corona-Bekämpfung nach wie vor defizitär sind, liegt eben auch daran, dass wir so Vieles noch nicht wissen. Ich frage mich zum Beispiel, warum das Gesetz und die öffentliche Debatte jetzt plötzlich primär die absolute Anzahl der festgestellten Neuinfektionen für maßgeblich erklären. Nach wie vor hat die ganz überwiegende Zahl der Infizierten entweder gar keine Symptome oder so harmlose Verläufe, die einen Lockdown für sich gesehen ja kaum rechtfertigen würden. Kein Staat kann verhindern, dass Menschen krank werden und sterben. Aber er muss verhindern, dass Menschen nur deshalb sterben, weil es nicht genügend Intensivbetten und Pflegepersonal gibt. Für die derzeit nach wie vor bedrohlich hohe Auslastung der Krankenhäuser kommt es aber nicht allein auf die Anzahl der Neuinfektionen an, sondern darauf an, wie hoch der Anteil der schweren Verläufe ist und welche Bevölkerungsgruppen es besonders trifft.

Sie haben vorhin gesagt, dass sich die parlamentarische Beteiligung an der Corona-Bekämpfung verbessert habe. Wie kann es dann aber sein, dass nach wie vor Bundesregierung und Ministerpräsidenten über die Verlängerung von Lockdowns entscheiden. Diese "Tafelrunden" sind in der DNA unseres Staates doch eigentlich gar nicht vorgesehen, oder?

Kingreen: Die Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen werden, bleibt befremdlich. Natürlich ist es sinnvoll, dass in einem Bundestaat Maßnahmen politisch koordiniert werden. Aber das kann doch erst passieren, nachdem der Bundestag darüber beraten hat. Derzeit ist es aber genau umgekehrt: Die von Ihnen so genannte Tafelrunde entscheidet und danach können das die Parlamente nur noch abnicken. Wir leben derzeit in einer Verkündungsdemokratie: Mit einer Selbstverständlichkeit wurde kürzlich der Lockdown bis zum 10. Januar verlängert, ohne dass das zuvor öffentlich diskutiert oder gar abgewartet wurde, ob und wie die jetzigen Maßnahmen greifen. Dieses diskursfreie Durchregieren ist auch deshalb nicht hinnehmbar, weil in Ministerpräsidenten-Runden Milliardenhilfen beschlossen werden; das unterhöhlt das Budgetrecht der Parlamente, die sich das nicht mehr gefallen lassen sollten. Und leider ist es übrigens nach wie vor so, dass das Bundesministerium für Gesundheit durch Rechtsverordnungen Parlamentsgesetze ändern kann; das bleibt ein vollkommen unhaltbarer Zustand, über den wir ja in unserem vergangenen Interview schon gesprochen haben.

Lesen Sie im zweiten Teil unseres Interviews, wie Verfassungsrechtler Thorsten Kingreen den zweiten Lockdown einschätzt und welche Rechtsgrundlagen aus seiner Sicht für die bevorstehenden Corona-Impfungen geschaffen werden müssen.

"Ruf nach einem härteren Lockdown ist nur vordergründig klug"

Wie bewerten Sie den "Lockdown light"?

Kingreen: Der jetzige Lockdown ist das Ergebnis einer Abwägung, deren Fehlen wir im Frühjahr bemängelt haben, als es hieß, Leben und Gesundheit stünden apriorisch über allen Freiheitsrechten. Diese Abwägung ist nicht einfach: Wir können zwar relativ klar beziffern, wie viele Menschen an beziehungsweise mit Corona versterben, haben aber auf der anderen Seite Schwierigkeiten, die sozialen und kulturellen Folgeschäden der Bekämpfungsmaßnahmen zu konkretisieren. Man kann eben anders als bei den Kranken und Toten nicht exakt beziffern, welche gesellschaftlichen und gesundheitlichen Schäden Homeschooling, geschlossene Kultureinrichtungen und soziale Vereinsamung auslösen. Deshalb neigen wir intuitiv dazu, die unmittelbar durch das Virus verursachten Schäden höher zu bewerten.

Aber der bayerische Ministerpräsident Söder sagt, dass die Maßnahmen noch immer zu schwach sind und wir einen härteren Lockdown bräuchten. Gesundheit und Leben stünden über allem.

Kingreen: Ich sagte ja schon, dass man über jede Abwägung streiten kann. Mir hat zum Beispiel noch keiner erklären können, warum Gottesdienste stattfinden dürfen, Theateraufführungen hingegen nicht; verfassungsrechtlich geschützt sind beide gleichermaßen. Der Ruf nach einem härteren Lockdown ist aber nur vordergründig klug. Es bezweifelt ja niemand, dass die Inzidenzwerte bis Weihnachten deutlicher und vermutlich bis unter 50 gesunken wären, wenn wir auch die Schulen und Kindertagesstätten und den Einzelhandel zugemacht hätten. Aber was dann? Nach der neuen gesetzlichen Regelung hätten dann die meisten gesetzlichen Beschränkungen aufgehoben werden müssen. Dann wäre es wie im Karussell auf der Dult: Nach kurzer Zeit wären wir wieder dort, wo wir eingestiegen sind, nämlich bei den jetzigen hohen Inzidenzwerten. Ein Lockdown light ist nicht nur gesellschaftlich und ökonomisch verträglicher, sondern auch ehrlicher: Wir müssen noch eine Weile mit dem Virus leben. Ich würde mir übrigens wünschen, dass die bayerische Staatsregierung Gesundheit und Leben immer so ernst nimmt wie bei Corona. Sie missachtet seit Jahren und selbst nach Verhängung eines Zwangsgelds ein rechtskräftiges Urteil, das sie zur Verhängung von Fahrverboten verpflichtet, um die Grenzwerte für Feinstaub und Stickstoffdioxid einzuhalten und damit Leben und Gesundheit zu schützen.

Wir beobachten auch beim Thema "Corona" derzeit eine besorgniserregende gesellschaftliche Spaltung. Die selbst ernannten "Querdenker" sollen jetzt sogar vom Verfassungsschutz beobachtet werden.

Kingreen: Letztlich muss Politik glaubwürdig und trotzdem diskursbereit bleiben, und es kommt auch sehr auf die öffentliche Rhetorik an. Es hilft nicht, Menschen, die ein legitimes Anliegen haben, pauschal in eine Ecke zu stellen. Auch die täglichen Selbstinszenierungen des bayerischen Ministerpräsidenten wirken insoweit eher kontraproduktiv. Es löst auch bei Wohlmeinenden Abwehrreflexe aus, wenn abends in Berlin mit den anderen Ländern etwas vereinbart, dann aber am nächsten Morgen und seither täglich verkündet wird, die anderen Länder seien zu lasch. Dabei hat Bayern derzeit die zweithöchsten Inzidenzwerte bundesweit.

Zu Jahresbeginn wird vermutlich mit den Impfungen begonnen. Halten Sie hier die rechtlichen Regelungen für ausreichend?

Kingreen: Rechtliche Regelungen sind hier besonders wichtig, denn wir brauchen mehrheitliches Vertrauen in die Impfungen. Ich finde es zwar richtig, zu priorisieren, also zunächst Risikogruppen und medizinisches Personal zu impfen, aber wundere mich, dass die Entscheidung über die Reihenfolge Fachzirkeln überlassen und nicht gesetzlich geregelt wird. Wer kommt denn danach dran? Es kann ja wohl nicht nach dem Alphabet gehen. Außerdem muss geregelt werden, wie wir mit mittelbarem Impfzwang umgehen, also mit der Fluggesellschaft, die nur Geimpfte mitnimmt und dem Arbeitgeber, der nur Geimpfte einstellt. Auch hier werden wir wohl differenzierende Regelungen brauchen; auch hier ist es am Bundestag, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen.