Vatikan

Münchner Missbrauchsgutachten erschüttert katholische Kirche


Barbara Leyendecker (l-r), Ulrich Wastl, Marion Westpfahl und Martin Pusch von der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl bei der Vorstellung des Gutachtens zu Fällen von sexuellem Missbrauch im katholischen Erzbistum München und Freising.

Barbara Leyendecker (l-r), Ulrich Wastl, Marion Westpfahl und Martin Pusch von der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl bei der Vorstellung des Gutachtens zu Fällen von sexuellem Missbrauch im katholischen Erzbistum München und Freising.

Von dpa

Gutachten zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche hat es schon einige gegeben - doch das Münchner Gutachten vom Donnerstag schlägt ein wie eine Bombe und ist nun auch ein Fall für die Justiz.

Das neue Gutachten zu sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising erschüttert die katholische Kirche. Betroffene erheben schwere Vorwürfe und die Justiz prüft, ob kirchliche Verantwortungsträger sich womöglich strafbar gemacht haben.

Die Staatsanwaltschaft München I untersucht derzeit 42 Fälle von Fehlverhalten kirchlicher Verantwortungsträger, bestätigte die Sprecherin der Behörde, Anne Leiding, der Deutschen Presse-Agentur.

Die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW), die das aufsehenerregende Urteil im Auftrag des Bistums verfasst hat, habe der Staatsanwaltschaft im August 2021 "41 Fälle zur Verfügung gestellt", sagte Leiding - und einen weiteren Fall im November 2021. "Sie betreffen ausschließlich noch lebende kirchliche Verantwortungsträger und wurden stark anonymisiert übermittelt."

Sollten sich auf dieser Basis "Verdachtsmomente hinsichtlich eines möglicherweise strafrechtlich relevanten Verhaltens der kirchlichen Verantwortungsträger ergeben", würden die entsprechenden Unterlagen bei der Kanzlei angefordert und gegebenenfalls an die zuständigen Staatsanwaltschaften weitergegeben, sagte Leiding. "Welche strafrechtlichen Normen verletzt wurden, ist noch Gegenstand der Prüfung."

Das vom Erzbistum München und Freising selbst in Auftrag gegebene WSW-Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass Fälle von sexuellem Missbrauch in der Diözese über Jahrzehnte nicht angemessen behandelt wurden und wirft den ehemaligen Erzbischöfen Friedrich Wetter und Joseph Ratzinger, dem heute emeritierten Papst Benedikt XVI., konkret und persönlich Fehlverhalten in mehreren Fällen vor.

Auch dem aktuellen Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx, wird formales Fehlverhalten in zwei Fällen vorgeworfen. Von mindestens 497 Opfern und 235 mutmaßlichen Tätern sprechen die Gutachter, gehen aber von einem deutlich größeren Dunkelfeld aus.

"Er hat eindeutig gelogen"

Besonders brisant ist die Rolle Ratzingers. Denn die Gutachter gehen davon aus, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die Wahrheit gesagt hat.

Der renommierte Kirchenrechtler Thomas Schüller wird deutlicher: "Er hat eindeutig gelogen", sagte er am Donnerstagabend im ARD-"Brennpunkt". Benedikt hatte immer wieder betont, an einer Sitzung im Jahr 1980 nicht teilgenommen zu haben, in der beschlossen wurde, dass ein Priester, der im Bistum Essen Jungen missbraucht hatte, nach Bayern versetzt werden soll. Ratzinger war von 1977 bis 1982 Erzbischof von München und Freising.

Die Kanzlei WSW legte ein Protokoll vor, wonach Ratzinger - anders als von ihm behauptet - durchaus an der Sitzung teilgenommen hatte. "Der Reputationsschaden für Benedikt ist groß, gerade weil er sich bisher stets als Kämpfer gegen sexuellen Missbrauch in der Kirche gezeigt hatte", sagte der katholische Theologe Daniel Bogner der dpa.

Ratzingers Teilnahme an der Sitzung sei belegt, "weil das Protokoll Dinge referiert, die nur er wissen kann aus einem Gespräch mit Papst Johannes Paul II.", betonte Schüller im ARD-"Brennpunkt". Dass es bei diesem Gespräch ausgerechnet um die Entziehung der Lehrerlaubnis für Ratzingers langjährigen liberalen Widersacher, den Theologen Hans Küng, ging, nannte Schüller einen "Treppenwitz der Geschichte".

"Er möchte heute nicht die Wahrheit sehen, sondern er leugnet sie und versucht, alle Verantwortung von sich zu schieben und dadurch brüskiert er die Opfer ein zweites Mal", kritisierte Schüller den emeritierten Papst. Der heutige Münchner Erzbischof, Kardinal Reinhard Marx sei da schon weiter. "Er hat wirklich kapiert jetzt, dass er sich auf die Seite der Opfer zu stellen hat", sagte Schüller. "Ob es zu spät kommt, werden wir sehen."

Theologe hält Rücktritt von Marx für angemessen

Die Betroffene Agnes Wich sieht Marx' Rolle dagegen anders und kritisierte scharf, dass er bei der Vorstellung des Gutachtens nicht anwesend war und später nur eine kurze Stellungnahme abgab. Eine ausführlichere soll in einer Woche folgen.

Theologe Bogner hält nach den Enthüllungen des Gutachtens einen Rücktritt von Marx für angemessen. Es sei vorstellbar, dass der Erzbischof von München und Freising dem Papst als Reaktion auf das Gutachten erneut - wie schon im vergangenen Jahr seinen Rücktritt anbiete, sagte der Professor für Moraltheologie und Ethik an der schweizerischen Universität Freiburg. "Und ich hoffe, er wird eine erneute Ablehnung durch Papst Franziskus diesmal nicht akzeptieren. Dies wäre ein zwar zunächst nur symbolisches, aber sehr starkes Zeichen dafür, dass die bisherigen Strukturen der Kirche so nicht weiter funktionieren."

Das Münchner Gutachten werde die Kirchenaustrittszahlen wohl weiter in die Höhe treiben. Entscheidend sei nun, wie man damit innerkirchlich umgehe: "Bleibt es dabei, einzelne Personen zur Verantwortung zu ziehen, oder werden strukturelle Schlüsse daraus gezogen?"