Straubing

Eine Tagblatt-Redakteurin auf Fußwallfahrt nach Altötting


Das Ziel endlich vor Augen: Nach 96 Kilometern Fußmarsch kommen die Pilger in Altötting an.

Das Ziel endlich vor Augen: Nach 96 Kilometern Fußmarsch kommen die Pilger in Altötting an.

Jeden Tag bis zum Jahresende veröffentlicht die Lokalredaktion des Straubinger Tagblatts einen ihrer Lieblingstexte aus 2018. Im dritten Artikel der Serie berichtet Redakteurin Sophie Schattenkirchner von ihrer Wallfahrt nach Altötting.

Es gibt Momente im Leben, da fragt man sich einfach nur: Was mache ich eigentlich hier? Diesen Moment hatte ich heuer an Pfingsten in Falkenberg. Ich lag vor einer Mülltonne flach am Boden. Die Sonne reflektierte in der Rettungsdecke, die ich noch schnell als Unterlage auf den Beton geschmissen hatte. Ich hatte bereits knapp 60 Kilometer zu Fuß hinter mir - in nicht einmal 24 Stunden. Jetzt konnte ich keinen Schritt mehr weiter. Doch ich war mitten in der Wallfahrt nach Altötting. Wie ich dazu kam? Mehrmals hab ich schon über die Pilger geschrieben, die immer am Freitagabend vor Pfingsten aus Straubing wegziehen - und dann 96 Kilometer in 32 Stunden zurücklegen. Mich hat es immer tief berührt und ich habe mich gefragt, warum geht man bei einer Wallfahrt mit und was macht das mit einem? Nach meinem Tiefpunkt - ja, ich bin fünf Kilometer mit einem kleinen Begleitfahrzeug mitgefahren - ging es bei mir wieder bergauf. Gott sei Dank nicht streckentechnisch, sondern mental und physisch. Ich hab's bis Altötting geschafft und darüber einen Artikel für den Lokalteil geschrieben. Eines, das weiß ich jetzt schon: Es wird nie wieder eine Recherche für einen Artikel geben, die mich so sehr herausfordert.

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Mittagspause in Landau an der Isar: Brigitte Hofmeister und Gabriele Islami sitzen auf einem Feldbett und ruhen sich kurz aus.

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Schwester Elisabeth geht bei der Wallfahrt nach Altötting mit, weil sie Danke sagen möchte.

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Nach 60 Kilometer kam für unsere Redakteurin der Tiefpunkt. Für einen Moment musste sie sich auf eine Rettungsdecke am Boden setzen. Aber ans Aufgeben dachte sie nicht - und schaffte es dann doch bis Altötting.

96 Kilometer in 32 Stunden: Die Fußwallfahrt von Straubing nach Altötting ist eine körperliche Herausforderung. Doch was wirklich zählt, ist etwas anderes - ein Erfahrungsbericht.Ludwigsplatz - 96 Kilometer bis nach Altötting: Es ist Freitagabend, kurz vor 23 Uhr: Vier junge Männer, ausgerüstet mit Rucksäcken, an denen Schirme, Kappen und Iso-Matten baumeln, knipsen ein Selfie vor dem Stadtturm. Nebenan ruft ein Mann: "Hans? Bist du's?", und klopft einem anderen auf die Schulter. Die beiden umarmen sich: "Wie die Zeit vergeht. Schon wieder ein Jahr."

Innerhalb weniger Minuten reihen sich 340 Menschen zu einem Zug. "Betet's für mich auch mit", sagt eine Frau zu den Pilgern. Dekan Johannes Plank ist gerührt: "Ihr nehmt so viele in euren Herzen mit. Geht's in Frieden und kommt's gut wieder heim." Familienangehörige und Freunde, die nicht mitgehen, stehen entlang des Zuges, winken und klatschen. Eine ältere Frau wischt sich mit einem Taschentuch Tränen aus dem Gesicht. Glocken läuten, die Bläserfreunde Rain beginnen zu spielen, die 138. Fußwallfahrt von Straubing nach Altötting setzt sich in Bewegung.

Ab Aiterhofen ist es finster, keine Straßenlaterne erhellt mehr den Weg. Nur das Blaulicht des Sanitätswagens und der Polizei, die den Zug von hinten her absichern, flackert. "Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder..." spricht der Vorbeter mit ruhiger Stimme in das Mikrofon.

"Weißt noch die Sternschnuppe, die wir voriges Jahr gesehen haben?", fragt ein Mann, der neben mir geht, einen anderen. In dieser Nacht aber erkennt man nur ein Wetterleuchten im Osten.

"Eine gute Rast", wünscht Pilgerleiter Sepp Drescher um 2.15 Uhr durch die Lautsprecher: Wir sind an der Grundschule Oberschneiding angekommen. Die zwei Stunden nach der kurzen Pause vergehen für mich wie in Trance: Das Blaulicht flackert, Pilger flüstern "O Maria hilf", die Vorbeter singen "Meerstern, ich dich grüße."

Gegen 4.30 Uhr, kurz nach Ganacker, zwitschern die Vögel, es dämmert.

Von Landau zur Mittagspause nach Malgersdorf

"Jeder hat einen Grund"

Landau - noch 66 Kilometer: Die rund 30 Malteser, die den Zug begleiten, haben in Landau an der Isar vor der Kirche St. Maria ein Sanitätszelt aufgebaut. Darin sitzen um kurz vor 6 Uhr Brigitte Hofmeister und Gabriele Islami auf einem Feldbett. "Nach Oberschneiding hab' ich's zum ersten Mal gespürt", sagt Brigitte Hofmeister und zeigt auf die Blase an ihrem Fußballen. Ein Sanitäter hat ihr die Blase hier in Landau aufgestochen und verbunden. Die beiden Frauen sind zum ersten Mal bei der Fußwallfahrt dabei: "Uns war gleich klar, wenn, dann geh' ma von Straubing aus", sagt Gabriele Islami und lacht. Einmal im Jahr unternehmen die beiden Arbeitskolleginnen etwas miteinander, zuletzt waren sie auf der Zugspitze. "Aber das Tempo bei der Wallfahrt ist schon ganz schön schnell."

Vor der Kirche St. Maria sitzt Schwester Elisabeth auf einer Bierbank und massiert sich die Schienbeine. Ihre letzte Wallfahrt von Straubing nach Altötting war 1968. Warum geht sie in diesem Jahr mit? "Weil ich Danke sagen möchte." Ihr Bruder ist im vergangenen Jahr nach einer Krebs-Operation als geheilt entlassen worden. "Ich bete sehr viel für meine Verwandten." Die Rast in Landau ist für sie besonders: Schwester Elisabeth stammt aus Zeholfing, einem Ort in der Nähe von Landau an der Isar. In der Kirche St. Maria ist sie gefirmt worden. Seit Jahrzehnten arbeitet sie im Klinikum St. Elisabeth, als Diabetesberaterin und in der Kardiologie.

"Jeder hat einen Grund mitzugehen", erklärt ein Pilger auf dem Weg über Haunersdorf nach Malgersdorf. Ein Mann sagt, er nimmt die Strapazen auf sich, weil er eine gesunde Familie hat. "Man hat das im Kopf: Was ist, wenn ich einmal nicht mitgehe, und dann passiert etwas? Wo man es doch versprochen hat ..." Ein anderer Pilger erzählt von einem Nachbar, der den Zweiten Weltkrieg überlebt und sich geschworen hat, als Dank dafür nach Altötting zu gehen. Bis zum Alter von 82 Jahren pilgerte er mit.

Von diesen Gedanken sprechen auch die Vorbeter bei einer Meditation, als der Zug einen Wald durchquert: von Problemen, die sich "bodenlos schwer" anfühlen. Die Vorbeter gehören zum 30-köpfigen Team der Pilgerleitung. Manche sichern den Zug ab, andere tragen das Kreuz oder schieben die Räder mit den Lautsprechern.

Es ist kurz vor Mittag und es wird immer wärmer. Bei einer längeren Pause vor dem Feuerwehrhaus in Malgersdorf kaufe ich mir Nussecken und ein kühles Wasser. Dort am Feuerwehrhaus sitzen auch Straubings Stadtbrandrat Stephan Bachl und rund zehn Feuerwehrler im Schatten. Sie sind seit Landau dabei: "Wir wollten eigentlich ab Straubing gehen, aber der Bombenfund in der Nacht zum Freitag hat einfach zu lang gedauert", erzählt Bachl.

Endspurt mit Gastfreundschaft, Blasenpflaster und Pferdebalsam

"Ich geh' für sie weiter"

Falkenberg - noch 40 Kilometer: Mein Tiefpunkt ist am Samstag um 15 Uhr erreicht, in Falkenberg. Ich kann gerade noch meine Rettungsdecke auf den Boden werfen. Die ersten Minuten liege ich nur ausgestreckt da. Der einzige Gedanke, der mir durch den Kopf schießt, ist, dass ich etwas zu Trinken brauche. Ich versuche aufzustehen, meine Beine fühlen sich schwer an. Zu schwer. Ich habe keine Blase und es ist nicht ein Gelenk, das weh tut - alles schmerzt. Irgendwie schaffe ich es noch zum Getränke-Anhänger. Aber dann ist für mich klar: Es geht keinen Schritt mehr weiter. In diesem Moment fährt ein Begleitfahrzeug an mir vorbei, ein Platz ist noch frei. Ich steige ein.

Der Bus bringt mich acht Kilometer weiter nach Eggenfelden. Dort warten schon Anwohner und Gemeindemitglieder, die die Pilger aufnehmen. Nur wenige Minuten später kommt Gabriele Islami mit dem Gepäck-Bus in Eggenfelden an, auch sie konnte in Falkenberg nicht mehr. Ihre Freundin Brigitte hat sich in Malgersdorf abholen lassen, die Blase ist zu schmerzhaft geworden. "Ich geh' jetzt für sie weiter", sagt Gabriele Islami.

Wenige Minuten später hört man aus der Ferne "Maria mit dem Kinde lieb uns allen deinen Segen gib'" - die Fußwallfahrer ziehen gegen 17 Uhr in Eggenfelden ein. Ich darf bei jemandem aus meiner Gruppe mit, der schon seit Jahren pilgert und immer in Poppenberg bei Mitterskirchen übernachtet. Die Herbergsfamilie versorgt uns mit Nudeln, Reis, Schaschlik-Soße, Salat und vor allem Gastfreundlichkeit: Wir können uns duschen, Blasen werden neu verklebt, Oberschenkel mit Pferdebalsam und Franzbranntwein eingerieben. Um kurz vor 19 Uhr liege ich im Bett und hab' nicht einmal mehr die Kraft, mich umzudrehen - manche aus unserer Gruppe schaffen es noch, sich das Fußballspiel anzusehen.

Als um 0.30 Uhr mein Wecker klingelt, kann ich es nicht glauben: Ich kann wieder meine Beine heben und auftreten. Nach dem Frühstück bringt uns die Gastfamilie zum Pilgerzug, der bereits um Mitternacht in Eggenfelden losgegangen ist. Nach Reischach sind wir 780 Wallfahrer. Auch Gabriele Islami hat sich über Nacht erholt und erzählt: "Ich hab' jetzt meine ganze Siedlung durch." Viele Nachbarn und Freunde haben sie vor der Wallfahrt gefragt, ob sie nicht für sie mitbeten könne. "Für jeden hab' ich ein Vaterunser gebetet."

Um kurz vor 7 Uhr hören wir durch die Lautsprecher die Bläserfreunde Rain und von weitem schon die Kirchenglocken am Kapellplatz in Altötting. Entlang der Wege warten Verwandte und Freunde. "Ich bin ganz gerührt. Unglaublich", flüstert Gabriele Islami und lächelt. Wir ziehen an der Gnadenkapelle vorbei in die Basilika St. Anna. "Ihr seid mit einem Sorgen-Rucksack hier angekommen", sagt Pfarrer Johannes Lorenz, "alle Probleme sind lösbar. Denn Gott weiß um eure Sorgen."

Für mich endet die Wallfahrt bei einem Weißwurst-Frühstück im Gasthaus "Zur Post". Ich glaube, um diese Wallfahrt zu schaffen, braucht man nicht unbedingt die beste Kondition, perfekte Laufschuhe oder gutes Wetter - Überzeugung ist das, was zählt.