Regensburg

Erstsemester: Zwischen Angst und Aufbruch


Nathalie Schmitt (22) studiert seit dieser Woche Biochemie an der Universität Regensburg.

Nathalie Schmitt (22) studiert seit dieser Woche Biochemie an der Universität Regensburg.

Von Miriam Graf

Die erste Woche Vorlesungen an der Universität Regensburg ist vorbei. Für 3.300 Studenten im ersten Semester war sie der erste Geschmack auf die kommenden Jahre. In Chemie schafft es möglicherweise nur jeder Zweite bis zum Abschluss. Von der Warnung lässt sich Studienanfängerin Nathalie Schmitt nicht einschüchtern.

Die ersten 20 Minuten der Vorlesung haben die Studenten wenig mitgeschrieben. Auf den kleinen aufklappbaren Tischen im Hörsaal 44 liegen College-Blöcke, nur vereinzelt sind Laptops aufgeklappt. Dann plötzlich notieren sich alle das Gleiche: den Klausurtermin. Auch Nathalie Schmitt schreibt das Datum im Januar auf ihren Block. Sie ist Rechtshänderin, trägt am rechten Handgelenk ein beiges Haargummi und eine goldene Uhr. Auf ihrem Tischchen liegt ihr Smartphone, das in einer schwarzen Lederhülle steckt. Sie schaut zweimal während der Vorlesung darauf. Andere Kommilitonen sind häufiger an ihren Handys.

"Wenn Sie erst Weihnachten mit dem Lernen anfangen, wird es zu spät sein", mahnt Professor Dr. Arno Pfitzner die 150 Studienanfänger, die vor ihm sitzen. Er trägt einen nicht mehr ganz weißen Laborkittel über Jeans und einem lilafarbenen Hemd. Bis jetzt haben die Studenten über seine Witze gelacht. Jetzt ist nur leises Gemurmel ist zu hören.

Die Warnung des Professors

Eigentlich soll Pfitzners Vorlesung am Freitag um elf Uhr für die Studenten eine willkommene Abwechslung sein: "Wir führen hier Experimente durch, die Ihnen die Eigenschaften und Reaktionen der Elemente mehr oder weniger eindrucksvoll demonstrieren. Bei uns passiert richtig was, es knallt und stinkt." Doch während der Sitzung in der ersten Vorlesungswoche redet Pfitzner seinen Studenten ins Gewissen. "Jeder zweite Platz wird am Ende Ihres Studiums leer sein", warnt er. "Machen Sie so ein zeitaufwendiges Studium wie Chemie nur, wenn Sie dahinterstehen. Dann macht es wirklich viel Spaß, denn wir machen hier etwas wirklich Neues. Doch bis Sie alleine im Labor stehen und forschen, müssen Sie die Grundlagen lernen. Wir wollen keine Chaoten im Labor, denn das ist gefährlich. Die werden aussortiert." Die Chemiker der Universität Regensburg seien weltweit gefragt. "Wir legen viel Wert auf dieses Qualitätslabel. Deswegen kann nicht jeder das Studium beenden."

"Er schien uns Angst machen zu wollen"

Nathalie Schmitt glaubt die Zielsetzung zu erkennen. "Der Professor schien uns um jeden Preis Angst machen zu wollen", sagt sie. In keiner ihrer anderen Vorlesungen haben die Professoren so deutliche Worte verloren. "Bisher wurden wir nur zum intensiven Selbststudium aufgefordert", erzählt sie nach der Vorlesung, während sie auf einem der roten Schemel in der Chemie-Cafeteria sitzt, nur wenige Meter vom Hörsaal entfernt. Schmitt studiert Biochemie, ein kleiner, intensiv betreuter Studiengang mit 30 Studienplätzen. Die 22-Jährige hat nach dem Abitur erst einmal im Rettungsdienst gearbeitet. Sie muss sich nun wieder umgewöhnen, sich stundenlang auf den Stoff konzentrieren, statt praktisch Hand anzulegen.

Ihre erste Vorlesungswoche hat Schmitt vor wenig Herausforderungen gestellt. Wenn sie nicht weiß, wo ein Raum ist, schaut sie auf den Lageplan. Zur Schnupperwoche des Hochschulsports ist sie nicht gegangen, sondern hat gleich die Semestergebühr für die Teilnahme daran gezahlt. Der Berechtigungscode ist bereits in ihren Studentenausweis eingeschrieben. "Ich brauche den Sport als Ausgleich, das weiß ich schon." Sie wird ins Volleyballtraining und in den Kraftraum gehen. Auch in der Mensa war sie schon mehrmals. "Bisher hat es gut geschmeckt. Und es gibt auch immer ein gesundes Gericht."

Fuß fassen unter Einzelkämpfern

Die junge blonde Frau meldet sich in der Vorlesung, als Pfitzner fragt, wer alles nicht aus Bayern kommt. Sie ist aus Koblenz hierher gezogen. Außer ihr melden sich vielleicht zehn andere Studenten. "Ich wohne erst seit kurzem hier", sagt Schmitt. "Die Stadt gefällt mir sehr gut, aber an den Dialekt muss ich mich noch gewöhnen. Ich hätte nicht gedacht, dass so viele der Studenten Bairisch sprechen." Pfitzners nächste Fragen verdeutlichen ihren Eindruck. Viele melden sich, als die Oberpfalz aufgerufen wird - und noch einmal deutlich mehr, als Pfitzner nach den Leuten aus Niederbayern fragt.

Bisher kennt Schmitt noch niemanden aus ihrem Studiengang genauer. Ihr erster Eindruck ist, dass ihre Kommilitonen Einzelkämpfer sind. "Bei uns ist jeder für sich. Alle sind sehr ehrgeizig." Sie ist sich auch nicht sicher, ob sich das groß ändern wird. "Ich glaube, dass sehr viel übers Feiern und Trinken läuft. Ich trinke aber nur wenig Alkohol", sagt sie. Den Alkohol thematisiert auch Pfitzner. "Sie sollen sich nicht ins Kämmerchen einschließen. Gehen Sie weg, lernen Sie andere Leute kennen. Tauschen Sie sich mit Studierenden anderer Fächer aus. Sie werden merken, nach drei Semestern haben Sie nur noch Chemiker als Freunde, weil alle anderen immer mehr Zeit haben als Sie. Und trinken Sie nicht so viel, dass Sie am nächsten Tag nicht mehr in die Vorlesung kommen können."

Eine große Umstellung von der Schule

Pfitzner will den Studenten ihren Mut nicht vollständig rauben. "Wir schmeißen hier niemanden raus, wenn Sie fleißig sind und mitmachen", sagt er. Doch Studenten seien grundsätzlich selbst für Weiterkommen verantwortlich. "Das ist eine große Umstellung von der Schule", sagt Pfitzner. "Sie müssen am Ende den Stoff beherrschen, wir zwingen Sie nicht, in die Vorlesung zu kommen. Das bleibt Ihnen selbst überlassen. Wir behandeln Sie wie Erwachsene, also benehmen Sie sich auch so."

Dabei schätzen sich viele Studienanfänger noch gar nicht als Erwachsene ein. Schmitt erzählt: "Eine Kommilitonin hat mir gesagt, sie müsse jetzt erstmal erwachsen werden. Sie pendelt auch noch von Zuhause hierher." Dadurch, dass sie eine Auszeit nach der Schule hatte, hat sie sich bereits in die Welt der Erwachsenen eingefunden. Ihren Platz im Vorlesungsaal will sie auf jeden Fall einnehmen - bis zum Ende des Studiums.

sized

Professor Dr. Arno Pfitzner warnt die Studienanfänger: "Lernen Sie kontinuerlich mit. Sonst ist Ihr Chemie-Studium vorbei, bevor es überhaupt angefangen hat."

sized

Die Fakultät für Chemie und Pharmazie an der Universität Regensburg.

sized

Laut dem Professor wird jeder zweite Platz am Ende des Studiums nicht mehr besetzt sein.