Niederbreitbach

Risiko-Patient Benni Over und sein Kampf um den Impfstoff


Die Overs am Eingang ihres Hauses in Niederbreitbach. Schon seit zehn Monaten befinden sie sich dort in selbst auferlegter Quarantäne.

Die Overs am Eingang ihres Hauses in Niederbreitbach. Schon seit zehn Monaten befinden sie sich dort in selbst auferlegter Quarantäne.

Benni Over ist in Deutschland vor allem für sein Engagement für Orang-Utans bekannt. Obwohl der 30-Jährige fast vollständig gelähmt ist, setzt er sich mit großer Kraft für die gefährdete Tierrasse sowie den Regenwald und Klimaschutz ein. Wegen Corona schwebt Benni nun allerdings selbst in Gefahr. Sein Fall steht exemplarisch für viele, die bei der Impfpriorisierung durch das Raster zu fallen drohen.

Auch unsere Redaktion hat in der Vergangenheit bereits über Benni Over und seinen Einsatz für die Orang-Utans berichtet. Der 30-Jährige leidet seit seiner Kindheit an der seltenen Muskelerkrankung Muskeldystrophie Duchenne. Er ist fast vollständig gelähmt, sitzt im Rollstuhl und muss maschinell beatmet werden. Eine Infektion mit dem Coronavirus würde Benni wohl nicht überleben. Zwar soll noch in diesem Jahr mit den Impfungen gegen Corona begonnen werden - doch Stand jetzt wäre Benni trotz seiner Erkrankung nicht in der priorisierten Impfgruppe.

Denn gemäß den Regelungen, die Gesundheitsminister Jens Spahn am vergangenen Freitag vorgestellt hat, sollen bei den Impfungen zunächst nur Über-80-Jährige und Bewohner sowie Personal von Pflegeheimen behandelt werden. Obwohl er Hochrisikopatient ist, wäre Benni bei dieser Gruppe nicht dabei - denn er wird von seinen Eltern zuhause gepflegt und nicht in einem Heim.

Seit zehn Monaten in selbst auferlegter Quarantäne

Bereits seit zehn Monaten verlassen Benni und seine Familie kaum noch ihr Zuhause in Niederbreitbach (Rheinland-Pfalz). Bennis Eltern Klaus und Connie Over pflegen ihren Sohn selbst und wollen das Risiko einer Corona-Infektion so gering wie nur möglich halten. Deswegen schotten sie sich seit dem Frühjahr rigoros ab. Niemand darf das Haus betreten, sie selbst verlassen es nur noch, wenn es absolut nötig ist. Einkäufe und andere Dingen des täglichen Bedarfs werden geliefert oder von den Nachbarn vorbei gebracht.

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Im Sommer hatte sich die Familie mit der ungewohnten Situation noch einigermaßen gut arrangiert, konnte viel Zeit im Garten und auf der Terrasse verbringen. Jetzt ist das nicht mehr möglich. Außerdem finden Bennis Therapien schon seit einiger Zeit nicht mehr statt. Das bereitet der Familie Sorgen. "Benni geht es körperlich zunehmend schlechter", berichtet Klaus Over im Gespräch mit idowa voller Sorge. Einige Therapien kann die Familie zwar auch selbst durchführen - aber eben nicht alle. Dafür braucht es Spezialisten. Doch aufgrund der anhaltend hohen Fallzahlen, ist der Familie nicht wohl dabei, Therapeuten zu sich ins Haus zu holen. "Sie haben uns ganz deutlich gesagt: ‚Ihr müsst selber entscheiden, ob wir kommen sollen, denn wir möchten nicht diejenigen sein, die euch das Virus gebracht haben'", erzählt Klaus Over. Das Restrisiko war der Familie schließlich zu groß.

"Wir sind offenbar in eine Systemlücke gerutscht"

"Unsere Hoffnungen haben wir deswegen vor allem auf den baldigen Impfbeginn gesetzt", sagt Klaus Over. Mit einer Impfung wäre Benni geschützt und die Therapien könnten wieder starten. Von fast allen Seiten hätte die Familie die Zusage bekommen: "Ihr seid dann ja bestimmt gleich in der ersten Gruppe dabei." Doch es kam anders. Weil Benni daheim gepflegt wird, ist er nicht in der priorisierten Impfgruppe. Die Begründung: Daheim sei das Risiko, sich mit Corona zu infizieren, für ihn geringer. Da der Impfstoff zu Beginn knapp ist, bleiben die Overs zunächst außen vor. "Es ist ein wirkliches Dilemma, in dem wir stecken", beklagt Klaus Over. "Wir werden quasi dafür bestraft, dass wir Benni selbst pflegen. Wir sind hier offenbar in eine Systemlücke gerutscht."

Zwar hat Jens Spahn bei der Vorstellung des Impfkonzepts von "fließenden Übergängen" zwischen den einzelnen Gruppen gesprochen - große Hoffnungen, dass für Benni eine Ausnahme gemacht wird, hat seine Familie allerdings nicht. "Wir haben bereits mehrere Anfragen an das Gesundheitsministerium geschickt, aber bislang keine einzige Antwort erhalten", so Klaus Over. Dass in Bennis Fall offenbar schon eine Entscheidung gefallen ist, hat die Familie erst aus einem Fernseh-Interview erfahren, dass der SWR mit Sabine Bätzing-Lichtenthäler, der Gesundheitsministerin von Rheinland-Pfalz, geführt hat.

Ministerin: Risiko für Heimpatienten ist geringer

In dem Beitrag wird die Ministerin auch auf den "prominenten Patienten" Benni Over angesprochen. Ob hier nicht eine frühere Impfung möglich wäre? Laut Bätzing-Lichtenthäler sprechen vor allem zwei Gründe dagegen: Der knappe Impfstoff und die anderslautende Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO). "Zur höchsten Priorität zählen zunächst jene Menschen, die sich in Pflegeeinrichtungen befinden, weil das Risiko, sich dort zu infizieren, größer ist. Diejenigen, die sich zuhause befinden, wie beispielsweise Benni Over aber auch andere, haben mehr Möglichkeiten sich zu schützen", so die Ministerin in dem Interview.

In den Ohren von Klaus Over klingen diese Worte wie Hohn: "Wir befinden uns bereits seit zehn Monaten in Quarantäne. Wenn Benni nicht in die priorisierte Impfgruppe kommt, bedeutet dass, das er wohl erst im zweiten Halbjahr 2021 geimpft werden könnte. Ihm geht es aber jetzt schon zunehmend schlechter, weil die regelmäßigen und für Benni so überlebenswichtigen Therapien seit Monaten fehlen." Was Klaus Over wichtig ist: Er will nicht nur eine Ausnahme für seinen Sohn. "Von manchen Seiten habe ich jetzt schon Vorwürfe gehört, die Overs wollen sich vordrängeln. Nein! Wir wollen, dass generell noch einmal über die Kriterien für die priorisierte Impfung gesprochen wird. Benni ist Pflegestufe 5, zu 100 Prozent behindert und muss beatmet werden - und trotzdem ist er nicht in der priorisierten Gruppe. Und er ist sicherlich nicht der einzige, der nun durch das Raster fällt. "

Impfung bis Ende Februar wäre gut - aber unwahrscheinlich

Dabei wollen die Overs auch gar nicht zwingend unter den ersten Geimpften sein. "Uns ist durchaus bewusst, dass es andere Menschen gibt, die eine Impfung noch dringender brauchen", so Klaus Over. Er würde sich eine Impfung zumindest bis Ende Februar wünschen, um wieder mit den Therapien beginnen zu können. "Klar ist aber auch: Je länger diese Phase andauert, desto schlechter geht es Benni. Er baut jetzt schon ab, hat teilweise kein Gefühl mehr in den Fingern. Das ist für ihn ganz schlimm, wenn er am Laptop nicht mehr tippen kann. Das ist sein Tor zur Welt."

Aktuell hofft die Familie noch, dass Benni doch in die Impfgruppe 1 aufgenommen werden kann. Sollte das nicht passieren, erwägt seine Familie aber auch, vor Gericht eine Einzelfallentscheidung für ihn zu erkämpfen. "Ich sage es Ihnen ganz ehrlich, wir haben noch nie in unserem Leben einen Anwalt gebraucht. Das ist nicht unsere Welt", sagt Klaus Over. "Aber wenn nichts passiert, müssen wir diese Möglichkeit erwägen."

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Benni Over macht zusammen mit seiner Mutter Connie eine Atemtherapie. Mit im Bild ist auch der Hund der Familie, Murphy.

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Die Overs führen ihre Therapien momentan so gut es geht selbst durch - unter Experten-Anleitung aus der Ferne. Ihnen ist das Risiko, Therapeuten ins Haus zu lassen und dadurch womöglich eine Ansteckung zu riskieren, zu hoch.